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Interview mit BISS - Rehabilitierung

Interview mit BISS Beratungstelefon für Rehabilitierung

km - 23.08.2020 - 14:00 Uhr

Die Bundesinteressenvertretung schwuler Senioren hat schon 2017 ein Projekt ins Leben gerufen, welches Menschen hilft, die von den §§175,175a StGB bzw. §151 StGB in der ehemaligen DDR betroffen waren. Denn seit 2017 sind diese laut Gesetz automatisch rehabilitiert und können zusätzlich eine Entschädigung einfordern. 3000 Euro für eine Verurteilung und 1500 Euros pro angefangenes Jahr im Gefängnis. Wer diesen kostenlosen Komplettservice nutzen möchte, ruft an unter: 0800 – 175 2017 und landet bei Marcus Velke-Schmidt. SCHWULISSIMO spricht mit ihm über Entschädigung und Rehabilitierung.

 

Was sind die Voraussetzung für eine Rehabilitierung?
Grundsätzlich muss man sagen, dass seit 2017 alle Urteile aus der Bundesrepublik Deutschland, sowie der damaligen DDR automatisch aufgehoben sind – die aufgrund Verurteilung einvernehmlicher homosexueller Handlungen erfolgt sind. Wichtig ist dabei, die Handlung muss einvernehmlich gewesen und der beteiligte Partner muss 16 Jahre oder älter gewesen sein. Es darf keinerlei Missbrauch, Nötigung, Ausnutzung durch ein Abhängigkeitsverhältnis oder Ähnliches vorgekommen sein.
Zusätzlich können die Betroffenen eine Entschädigung beantragen.

Was benötigen Betroffene, wenn sie bei Ihnen anrufen bzw. entschädigt werden wollen?
Kommt drauf an, ob die Betroffenen noch ein Urteil haben, dass haben leider die Wenigsten. Wer jetzt noch ein Urteil hat, kann sich direkt an das Bundesamt für Justiz wenden und dort die Entschädigung beantragen. Recht unbürokratisch und schnell, da gibt es ein Antragsformular für, das wir gerne für die Betroffenen bereitstellen. Das können sich die Antragssteller aber auch in eigen Regie selbst runterladen. Man kann das theoretisch sogar formlos machen. Also das Urteil zum Bundesamt für Justiz schicken und dazu schreiben „Ich möchte gerne entschädigt werden.“ Ist allerdings sinnvoller das Antragsformular zu nutzen, da dort alle wichtige Information abgefragt werden und das Ganze dann schneller und unkomplizierter bearbeitet werden kann.
Wer kein Urteil mehr hat – das ist die Mehrheit, diese müssen sich an die Staatsanwaltschaft wenden, über die damals die Anklage vor Gericht erhoben wurde. Dort muss eine Rehabilitierungsbescheinigung beantragt werden. Die Staatsanwaltschaft muss feststellen, dass das Urteil von Person XY aufgehoben ist und stellt darüber eine Bescheinigung aus. Wer diese Bescheinigung bekommen hat, kann dann im nächsten Schritt beim Bundesamt für Justiz die Entschädigung beantragen.
Dabei ist zu beachten, dass man mit dem Antrag auf Rehabilitierungsbescheinigung zusätzlich eine eidesstattliche Versicherung mit abgibt, dass die sexuellen Handlungen einvernehmlich waren, dass kein Missbrauch, keine Nötigung etc. vorlag, und dass der Partner 16 Jahre oder älter war. Für den Fall, dass man im Gefängnis saß, muss man bei der Beantragung der Entschädigung beim Bundesamt für Justiz auch dies mit einer zusätzlichen eidesstattlichen Versicherung bestätigen und den Zeitraum angeben.
Seit 2019 gibt es noch erweiterte Entschädigungsrichtlinien für Dinge, die bisher nicht erfasst worden sind. Zum Beispiel Gerichtsverhandlungen ohne Urteil, weil es eine Einstellung oder ein Freispruch gab. Das kann nun auch entschädigt werden. Wer seinen Job aufgrund von homophobem Mobbing oder als Folge einer polizeilichen Ermittlung oder Verurteilung verloren, sowie gesundheitliche Schädigungen davon getragen hat, kann ebenfalls entschädigt werden. Das ist ein Weg, der recht einfach zu bestreiten ist, da man sich „nur“ mit dem Bundesamt für Justiz auseinandersetzen muss. Man benötigt keine eidesstattliche Versicherung. Man beantragt schriftlich diese Entschädigung, und dieser Antrag wird dann auf Papiergrundlage geprüft. Es werden keine Unterlagen benötigt, wer welche hat, kann diese gerne einreichen, um das zu untermauern, ist aber nicht erforderlich.
In allen eben genannten Fällen benötigt man keinen Anwalt. Wir bieten einen kostenlosen Komplettservice an. Wer unsere Nummer wählt, kann uns eine Vollmacht erteilen und damit können wir im Sinne der Betroffenen handeln. Im Idealfall hat die Person nichts mit der Staatsanwaltschaft zu tun. Unser Komplettservice ist aber auch nicht erforderlich, wer das selbst durchstehen möchte, kann dies tun – dann stehen wir zur Seite, wenn es Probleme geben sollte.
Wie lange dauert der Prozess der Entschädigung?
Das kommt drauf an. Die meisten Staatsanwaltschaften stellen die Bescheinigungen zügig aus innerhalb von zwei bis drei Monaten. Staatsanwaltschaften sind aber vor allem Ermittlungsbehörden, die meinen hin und wieder Akten suchen oder Personen vorladen zu müssen, obwohl nichts gegen die Person vorliegt – es handelt sich um unschuldige Menschen, die rehabilitiert werden sollen. . So kann es sein, dass es ein halbes Jahr und länger dauern kann – wenn die Staatsanwaltschaft Hürden aufstellt. Momentan sitze ich an einem Fall, der zieht sich schon über ein Jahr, und es ist noch kein Ende in Sicht.

Nur für die Bescheinigung? Wie lange dauert dann die Auszahlung?
Ja, nur für die Bescheinigung, das ist aber – wie schon gesagt – nicht der Regelfall. Wenn man die Bescheinigung erstmal hat, bekommt man die Entschädigung recht zügig. Das Bundesamt bearbeitet die Anträge in zwei bis drei Wochen, wobei es in der Corona Zeit auch schon zu Verzögerungen kam. Aber die Entschädigungen sind steuerfrei und werden nicht auf Sozialleistungen angerechnet. Das bedeutet, es sollten die Belege gut aufbewahrt werden, damit man beweisen kann, woher das Geld kommt und dass es steuerfrei bleibt – dafür muss man eben belegen können, dass es sich um Entschädigungszahlungen handelt. Sonst könnte zum Beispiel die Grundsicherung im Alter gekürzt werden, denn sobald man zusätzliches Einkommen hat, wird das gegen gerechnet. Entschädigungen bleiben davon unberührt, also sollte man das auf jeden Fall nachweisen können.

Im Gespräch mit Marcus Velke-Schmidt

Wie finanziert sich die Beratung?
Dieses Projekt wird unterstützt vom Bundesfamilienministerium und dem Bundesjustizministerium.

In der DDR waren auch homosexuelle Frauen betroffen, können diese auch von ihrem Angebot Gebrauch machen?
Das Beratungstelefon ist für alle Menschen gedacht, die Probleme mit dem §175, 175a hatten oder mit § 151 in der DDR, das war der Paragraf mit den gleichgeschlechtlichen Handlungen unter 18 Jahren verfolgt wurden – das betraf also auch Frauen. So waren Lesben und Schwule gleichermaßen betroffen. Nicht nur homosexuelle, sondern auch heterosexuelle Männer, die sich ausprobieren wollten,  litten ebenfalls darunter, sowie Opfer sexueller Handlungen, denn § 175a bestrafte in solchen Fällen nicht nur die Täterund auch Transfrauen, die noch als Männer bei den Behörden registriert waren und die geschlechtsangleichende Behandlung noch nicht abgeschlossen war – auch solche Betroffene wurden von uns beraten und konnten Entschädigungen erhalten. Das Rehabilitierungsgesetz ist auch neutral formuliert, also da steht nicht drin, dass nur schwuler Sex rehabilitiert wird, es geht dabei um Personen. Das können also alle sein.

Wie sieht es in den Fällen aus, in denen Anspruchsberechtigte schon verstorben sind?Können da noch Familie oder Lebenspartner Entschädigung verlangen?
Leider nicht, was die machen können, ist eine Rehabilitierungsbescheinigung beantragen, aber eine Entschädigung können wirklich nur die Antragssteller selbst fordern. Das heißt, wenn jemand verstorben ist kann niemand im Nachhinein einen Antrag auf Entschädigung stellen. Das ist nicht übertragbar oder vererbbar.

Zwischen 1949 und 1969 kam es in BRD zu 50.000 Verurteilungen dieser Art. Haben Sie Zahlen, wie viele Ihr Beratungsangebot bereits genutzt haben?
Ich kann natürlich nur unsere Zahlen nennen – ich hatte bis jetzt mit 112 Personen zu tun. Also seit 2017, kurz bevor das Rehabilitierungsgesetz am 22. Juli in Kraft getreten ist, habe ich hier meine Stelle angefangen. Diese 112 Personen hatten teilweise auch mehr als eine Verurteilung und polizeiliche Ermittlungen vorzuweisen. Da komme ich auf 170 Vorgänge insgesamt, von denen auch fast alle mit einer Entschädigungszahlung abgeschlossen worden sind.
Das Bundesamt für Justiz hat mehr Fälle, da alle unsere Fälle dort landen und es auch Menschen gibt, die unseren Service nicht nutzen und alles eigenständig lösen. Genaue Zahlen kenne ich da nicht, aber es sind wohl keine 300 Personen. Man ist initial davon ausgegangen, dass etwa 5000 Anspruchsberechtigte noch leben. Das heißt, es sind noch nicht einmal 10 Prozent erreicht worden.
Das hat verschiedenste Gründe: Wir wissen es nicht genau, aber die meisten werden bereits verstorben sein. Wer beispielsweise 1950 schon 30 Jahre alt war, der lebt jetzt einfach nicht mehr. Außerdem ist das Gesetz viel zu wenig bekannt. Ich erlebe es immer wieder, dass Betroffene nichts von ihren Ansprüchen wissen.

Zuletzt gibt es auch Menschen, die damit abgeschlossen haben und einfach nichts mehr damit zu tun haben möchten. Sich damit wieder auseinanderzusetzen löst bei Betroffenen auch einiges aus. Da kommen dann alte, verdrängte Gefühle hoch und das ist psychisch dann auch sehr belastend. Ich telefoniere manchmal stundenlang mit den Menschen, wo es denn mehr um das psychische Aufarbeiten, als das Finanzielle geht.
 

Weitere Infos unter: http://schwuleundalter.de/entschaedigung-und-rehabilitierung/
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Telefon: 0800 – 175 2017 (Montag bis Freitag von 11-17 Uhr)

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