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Eine gesunde Lebensqualität mit HIV!

Eine gesunde Lebensqualität mit HIV! Warum die Frage nach dem Wohlbefinden am wichtigsten ist

ms - 02.07.2022 - 10:00 Uhr

In Zeiten von Corona und neuerdings auch Affenpocken gerät HIV immer weiter in Vergessenheit, zu übermächtig scheinen aktuelle, andere Virus-Varianten. Dieser Verdrängungsmechanismus schadet nicht nur der HIV-Forschung, wie jüngst die oberste amerikanische Gesundheitsbehörde CDC bestätigte, sondern auch den Betroffenen selbst, sodass der Weg hin zu einer bestmöglichen, gesundheitsbezogenen Lebensqualität ins Hintertreffen gerät. Das Ziel ist dabei gesteckt: Der Weg soll immer mehr zu einer ganzheitlichen Betreuung gehen, weg von dem starren Blick auf die reine Viruslast. Diese Entwicklung ist ein Prozess, der bereits gute Fortschritte erzielt hat, aber in manchen Bereichen noch deutlich verbessert werden kann. SCHWULISSIMO hat nachgefragt bei Oberarzt Prof. Dr. Jürgen Rockstroh, Leiter der Ambulanz für Infektiologie und Immunologie mit Schwerpunkt HIV am Universitätsklinikum Bonn.

Wie sieht eine moderne HIV-Behandlung mit Blick auf die Lebensqualität eines HIV-Patienten heute aus?

Eine moderne HIV-Therapie hat eine maximale Wirksamkeit als unbedingte Voraussetzung, sprich also, eine dauerhafte Suppression der Virusvermehrung. Das übergeordnete Therapieziel ist aber eine durchgehende Verbesserung der gesundheitsbezogenen Lebensqualität der Person mit HIV. Der Fokus der modernen HIV-Medizin liegt auf einem gesunden Leben und Altern mit HIV bei gleichzeitigem Abbau der HIV-Stigmatisierung. Es geht gar nicht mehr nur um die Laborwerte und das Erreichen eines Abfalls der Viruslast unter die  Nachweisgrenze, sondern es ist mindestens genauso wichtig, dass die Menschen mit HIV ein hohes Maß an Lebensqualität unter ihrer laufenden antiretroviralen Therapie erfahren dürfen.

Welche Aspekte spielen dabei eine Rolle, um das zu erreichen?

Da haben wir zum einen die psychische Gesundheit. Wir wissen ja, dass Menschen, die mit HIV leben, sehr viel häufiger unter Depressionen leiden und diesem Punkt müssen wir uns verstärkt widmen. Zum anderen wird die Gruppe der Menschen mit HIV immer älter, über die Hälfte dieser Menschen in Deutschland ist bereits über 50 Jahre alt, damit müssen wir einen Fokus auf weitere Komorbiditäten richten. Das ist auch deswegen wichtig, weil es selbst unter bestmöglicher Therapie immer trotzdem einen Kampf des Immunsystems mit dem Rest des vorhandenen Virus´ gibt und das führt zu einer vermehrten Entzündungsreaktion an den Gefäßen. Dabei spielen auch Aspekte wie Diabetes oder eine Gewichtszunahme eine Rolle. Man muss sich also um Screening-Algorithmen kümmern, Komorbiditäten erkennen und behandeln und darauf achten, dass das natürlich zur HIV-Therapie passt, damit es keine Medikamenteninteraktionen gibt. Und dann muss man sich auch mit ganz praktischen Dingen beschäftigen, beispielsweise mit der Frage, wie ich einen Menschen mit HIV dazu bekomme, dass er zu einem Orthopäden geht, auch wenn er Angst vor einer Stigmatisierung hat.

Wenn ein Mensch in das Klinikum kommt, der gerade von seinem positiven HIV-Status erfahren hat, spielt dann zu Beginn auch gleich die Konzentration auf ein langes und gutes Leben eine zentrale Rolle?

Für jemanden, der gerade seine Diagnose bekommen hat, sind das natürlich zunächst nur leere Füllwörter. Akut nach einer Diagnose stehen erst einmal andere Fragen im Mittelpunkt: Was bedeutet das jetzt für mich? Erkranke ich jetzt? Hier muss man je nach Vorwissen erst einmal aufklären, wie die Prognose heute aussieht. Bei einer rechtzeitigen Diagnose steht einer normalen Lebenserwartung erst einmal nichts im Wege. Eine andere Frage ist oftmals auch: Wem kann ich das denn erzählen? Wie gehe ich damit mit der Familie, meinem Partner oder Freunden um? Erst wenn man diese Fragen angegangen ist, kann man auf das Ziel blicken, unter die Nachweisgrenze zu kommen. Es ist für Menschen mit HIV bis heute unheimlich wichtig, zu wissen, dass sie niemanden anstecken können. Das erleben viele als unheimlich befreiendes Gefühl. Erst dann können wir den Blick auf die Frage richten, wie der Patient sich wohlfühlen und wie eine lange Lebensqualität hergestellt werden kann. In Großbritannien geht man damit etwas besser um, die arbeiten sehr viel mit HIV-positiven Begleitern, die den Menschen mit einer neuen HIV-Diagnose zur Seite gestellt werden. Die können ganz konkret helfen und in der Auseinandersetzung mit der Thematik ihre persönlichen Erfahrungen einbringen. Es ist einfach wichtig, dass die Leute begreifen, dass es nicht nur um Laborwerte geht, sondern es muss auch Platz und Zeit für andere Dinge geben, die Menschen mit HIV beschäftigen.

Wäre es denn wünschenswert, dass es auch in Deutschland solche Begleiter gibt?

Ja! Ich finde das total super! Die helfen ja beispielsweise auch HIV-Infizierten, sich auf ihre Klinikbesuche vorzubereiten. Wir erleben auch viele HIV-Patienten, die einfach keinen anderen Menschen mit HIV kennen und sich nicht privat darüber austauschen können. Manche sind da völlig vor den Kopf gestoßen und haben einfach einen massiven Gesprächsbedarf, der auch persönlich zugeschnitten auf die Person sein muss. Da helfen pauschale Informationen nur bedingt. In England werden diese Angebote vom Staat finanziert, hier leider nicht.

Die Entwicklung hin zu einem ganzheitlichen Ansatz zeichnet sich dabei also inzwischen in mehreren Ländern sehr deutlich ab, oder?

Bei den heutigen Standards in Europa geht es weniger um die Therapie selbst, denn die funktioniert fast immer, sondern es geht mehr darum, wie man einen Menschen mit HIV dazu bringen kann, sich mit der Therapie wohlzufühlen. Wichtig ist, dass man sich als Arzt immer vergegenwärtigt, dass man diese Medikamente nicht selbst einnimmt, sondern der Mensch, der vor einem sitzt. Da muss auch Platz dafür sein, dass der Patient sagt, er kann nicht jeden Tag eine Tablette schlucken, weil er sie nicht verträgt.

iStock / Pandora Studio

Welche Rolle spielt dabei das HIV-Regime, wenn es darum geht, einen nachhaltigen Behandlungserfolg zu erreichen und zu sichern?

Die unbedingte Voraussetzung ist, dass die dauerhafte Virussuppression möglich ist. Das kann man heute mit vielen Regimen erreichen. Bei den Behandlungs-Regimen gibt es sicherlich eine Präferierung hin zu Regimen, die eine hohe genetische Barriere haben, sodass man in dem unwahrscheinlichen Fall, dass man ein virologisches Versagen hat, also man doch eine messbare Viruslast hat, keine Resistenz entwickelt. Das ist heute mit vielen verschiedenen Regimen möglich und ist natürlich ein ungemeiner Luxus. Wenn man beispielsweise wegen einer Depression seine Tabletten nicht nehmen kann, dann entstehen trotzdem keine Resistenzen und man kann immer wieder mit der bekannten oder einer neuen Therapie beginnen. Das ist wirklich ein enormer Fortschritt im Vergleich zu früher, wo jede Unregelmäßigkeit gleich zu massiven Problemen geführt hat.

Was können Menschen mit HIV heute schon tun, um die richtigen Weichen in Richtung guter gesundheitsbezogener Lebensqualität im Alter zu stellen?

Es ist wichtig, sich damit auseinanderzusetzen, wo man selbst steht. Was kann und will ich für eine gute Gesundheit im Alter präventiv machen? Kann ich mir Fachleute zur Unterstützung holen, beispielsweise bei der Gewichtsreduktion. Ich erlebe das ganz direkt auch bei meinem Partner, wir sind beide übergewichtig. Wenn wir uns gute Vorsätze machen, ist das zumeist Schall und Rauch. Wenn wir zu einer Ernährungsberatung gehen und die Situation sozusagen professionalisieren, dann klappt das Vorhaben zumeist besser. Es ist wichtig, sich ehrlich zu fragen, was man selbst tun kann. Bewegt man sich genug? Sollte man vielleicht doch mit dem Rauchen aufhören? Welche Vorsorge-Untersuchungen sollte ich machen? Wie möchte ich mich ernähren? All diese Fragen sind nicht nur gut für die Lebensqualität, sondern geben einem zudem das wichtige Gefühl, dass man auch selbst seinen Beitrag dazu leisten kann. Und immer wichtig: Impfungen!

Haben Menschen mit HIV ein anderes Gesundheitsbewusstsein als Menschen ohne die Infektion oder als Menschen mit anderen chronischen Erkrankungen?

Ich glaube schon, dass Menschen mit HIV heute bewusster auf ihre Gesundheit achten, weil sie mit der Diagnose heutzutage auch direkt erfahren, dass sie eine normale Lebenserwartung haben. Da blickt man natürlich ganz anders auf das weitere Leben. Dafür kommen heute ganz andere Aspekte zum Tragen. HIV-positive Menschen werden älter mit allen bekannten Alterserscheinungen, Corona und die Pandemie haben auch ihre Spuren hinterlassen und alle haben ziemlich zugenommen. Kurzum, die Frage nach dem Umgang mit der eigenen Gesundheit ist eine, die sich auch Menschen mit HIV immer wieder neu stellen können. Grundsätzlich glaube ich aber durchaus, dass Menschen mit einer chronischen Erkrankung den Vorteil haben, dass sie regelmäßig Kontakt zum Arzt haben, dort Sachen ansprechen können und ihre Werte sehr regelmäßig überprüft werden. Es gibt sogar Studien aus Dänemark, die nahelegen, dass die Lebenserwartung von Menschen mit HIV aufgrund der regelmäßigen Untersuchungen höher ist als bei der durchschnittlichen Bevölkerung.

Gehen junge Menschen mit dem Thema Gesundheit und HIV noch einmal anders um?

Für die ist es vielleicht insgesamt ein wenig einfacher, weil sie ihre Reise ohne den einstmaligen Schrecken von Aids antreten. Sie kommen nicht aus einer Zeit, in der sie erleben mussten, wie alle ihre Freunde sterben, und sind deswegen vielleicht im Grundtonus etwas optimistischer. Die wollen einfach behandelt werden und dann normal ihr Leben weiter leben. Auf der anderen Seite kommen auf sie aber auch ganz andere Herausforderungen zu, die die Situation wieder erschweren, beispielsweise Chemsex.

Ist unsere, insgesamt vermehrt alternde Gesellschaft darauf vorbereitet, mit alten HIV-positiven Menschen umzugehen?

Es gibt viele Bemühungen, das HIV-Stigma zu brechen, aber im Altersheim zum Beispiel kommt viel davon nicht an. Wenn in einem normalen Altersheim der erste Senior mit HIV ankommt, ist das bis heute noch sehr schwierig. Da gibt es unter den anderen Bewohnern oftmals noch eine sehr starke Form der Ablehnung, einfach, weil diese die aktuelle Entwicklung im Bereich HIV nicht mitbekommen haben. Viele denken, sie bekommen jetzt HIV, weil der Herr im Nachbarzimmer das hat. Es gibt natürlich Einrichtungen, die auf Menschen mit HIV spezialisiert sind, aber davon gibt es leider nur eine sehr begrenzte Anzahl. Hier werden wir uns für die Zukunft deutlich besser wappnen und zudem auch Ängste abbauen müssen.

Gibt es diese Ängste auch von Seiten der Mediziner? Oder anders gefragt, was können Behandelnde tun, um Menschen mit HIV bestmöglich zu begleiten?

Ja, hier gibt es schon noch Ängste, gerade wenn Kollegen und medizinisches Personal nicht aufgeklärt wurden oder man einfach noch keine Erfahrung damit gemacht hat. Da kann man wenigstens zu Beginn noch viel Ausgrenzung und Stigmatisierung erfahren. Das Wichtigste in den Einrichtungen, die sich um Menschen mit HIV kümmern, ist, möglichst schnell eine große Akzeptanz herzustellen. Diese Anlaufstellen müssen für Menschen mit HIV Orte seien, von denen sie sagen, hier kann ich hingehen und mir alles von der Seele reden, was mich betrifft. Das ist wirklich unheimlich wichtig.

Gibt es hier auch noch eine andere Gewichtung im Umgang mit der Frage, ob ein Mensch mit HIV homosexuell ist oder nicht?

Ja, ich glaube schon, dass es auch noch immer Beispiele für Homophobie gibt. Aber die größte Stigmatisierung erleben HIV-positive Menschen, die Drogen konsumieren. Oftmals kommen diese Menschen eher spontan ohne Überweisungsschein oder Termin in eine Praxis und bekommen im Grunde mehrfach signalisiert: Dich wollen wir hier nicht. Der wird dann mehrfach angeblafft und die Meisten wollen dann einfach nur wieder gehen. Das ist ganz schlimm und wirklich auch schwierig, sowas in einem Team zu besprechen und ein Verständnis dafür zu schaffen. Es ist zum Beispiel sinnlos, einem Drogen-Patienten um acht Uhr morgens einen Termin zu geben – das wird in der Regel nicht funktionieren. Da muss mehr sensibilisiert werden. Wenn ein solcher Mensch in die Praxis kommt und nach Hilfe sucht, dann muss man sich jetzt um ihn kümmern.

Mit Blick auf die moderne HIV-Therapie – was ist der wichtigste Punkt abschließend? 

Das Wichtigste für mich ist, dass man sich von den Laborwerten wegbewegt hin zu einem ganzheitlichen Ansatz, bei dem man versucht, den verschiedenen Problemen, die ein Mensch in seinem Leben entwickeln kann, Beachtung zu schenken. Für mich ist dabei die mentale Gesundheit ausschlaggebend. Wir müssen bei der Therapie auch Platz lassen für das Individuum. Hier braucht man ein allzeit offenes Ohr!

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