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Affenpocken: Hysterie oder langfristige Gefahr?

Hysterie oder langfristige Gefahr? Wie ist der aktuelle Wissensstand zum Thema MPX?

ms - 31.07.2022 - 12:00 Uhr

Nachdem im Mai die ersten Fälle von Affenpocken (MPX) außerhalb des Ursprungslandes Afrika in London aufgetreten waren, verbreitete sich in der praktisch ausschließlich betroffenen Gay-Community eine gewisse Unsicherheit und Angst, gerade ältere Homosexuelle erinnerten sich noch gut an die ersten Fälle von HIV und die anfangs ebenso dünne Informationslage. Knapp drei Monate später wissen wir deutlich mehr über MPX, allerdings lassen einige Aspekte noch immer aufhorchen, weswegen sowohl die Weltgesundheitsorganisation WHO wie auch die Deutsche Aidshilfe (DAH) und das Robert-Koch-Institut (RKI) zur Vorsicht warnen, anderenfalls könnten die Affenpocken auch in Europa endemisch werden. „Es scheint weiterhin möglich, den aktuellen Ausbruch in Deutschland zu begrenzen, wenn Infektionen rechtzeitig erkannt und Vorsichtsmaßnahmen umgesetzt werden. Informationen zu Symptomen, Übertragungswegen und Schutzmöglichkeiten sind daher essentiell“, so das RKI.

Verschiedene Organisationen wie beispielsweise die DAH sowie aber auch Gesundheitsminister Karl Lauterbach warnten in diesem Zusammenhang vor einer Stigmatisierung von Homosexuellen, grundsätzlich kann sich jeder Mensch mit der Virusinfektion anstecken. Nichtsdestotrotz sind seit Beginn der Ausbreitung fast ausnahmslos schwule und bisexuelle Männer (MSM) betroffen, wie Ende Juli abermals das RKI bekräftigte: „Die Übertragungen erfolgen in diesem Ausbruch nach derzeitigen Erkenntnissen in erster Linie im Rahmen von sexuellen Aktivitäten, aktuell insbesondere bei Männern, die sexuelle Kontakte mit anderen Männern haben (…) Auch das Auftreten der Läsionen im Uro- und Anogenitalbereich in einigen Fällen, deuten darauf hin, dass die Übertragung während des Geschlechtsverkehrs erfolgte.“ Zur Klarstellung: Eine sexuell übertragbare Krankheit ist MPX offiziell nicht, gleichwohl können und werden die Viren nach aktuellem Forschungsstand auch durch Sex, derzeit fast ausnahmslos zwischen Männern, übertragen. Die Infektion kann dabei nicht nur durch engen Körperkontakt weitergegeben werden, sondern auch durch Gegenstände, an denen das Virus längere Zeit überleben kann – beispielsweise an Kleidung, Bettwäsche, Handtücher oder auch Sexspielzeug.

Können in diesem Zusammenhang Kondome schützen?

Ja und Nein. Die Deutsche Aidshilfe sowie auch die britische Gesundheitsbehörde (UKHSA) raten zur Nutzung von Kondomen, schlicht, weil beim Sex die direkten Kontaktflächen von Haut zu Haut minimiert werden. Zudem zeigen erste Forschungsergebnisse einer MPX-Studie vom Juli dieses Jahres, dass die DNA der Affenpocken auch in Körperflüssigkeiten wie Sperma und Speichel vorhanden sind und so auch direkt beim Sex übertragen werden können. Aida Peiró-Mestres, die Autorin der Studie: „Wir konnten aufzeigen, dass virale DNA häufig in verschiedenen biologischen Flüssigkeiten, insbesondere im Speichel, während der akuten Phase der Krankheit und bis zu 16 Tage nach dem Auftreten der Symptome bei einem Patienten vorhanden sind.“ Das bedeutet, bereits ein intensives Küssen kann den Virus von Mensch zu Mensch übertragen. Die neusten Ergebnisse bestätigt auch das RKI: „Geschwüre, Läsionen oder Wunden im Mund können ebenfalls ansteckend sein, das heißt, das Virus kann dann auch über den Speichel solcher Infizierten übertragen werden.“ Infizierte sind dabei ansteckend, solange sie Symptome haben, in der Regel zwei bis vier Wochen lang. Der Ausschlag konzentriert sich zumeist auf Gesicht, Handflächen, Fußsohlen und den Genitalbereich. Die Hautveränderungen heilen ohne Behandlung von selbst ab, wobei es allerdings zu Narbenbildung kommen kann. Komplikationen durch bakterielle Superinfektion der Hautläsionen sind möglich. Die britische Gesundheitsbehörde hat Ende Juli deswegen die verstärkte Nutzung von Kondomen für mindestens drei Monate empfohlen: „Es ist nicht bekannt, wie lange das Affenpockenvirus in Sperma und anderen genitalen Ausscheidungen vorhanden bleibt. Wenn Sie nach Beendigung der Selbstisolierung wieder sexuelle Aktivitäten aufnehmen möchten, sollten sie daher 12 Wochen lang ein Kondom benutzen, nachdem der Ausschlag verschorft ist und der Schorf abgefallen ist. Dies ist eine Vorsichtsmaßnahme, um das Risiko einer Übertragung der Infektion auf Ihren Partner zu verringern.“

Reagieren die Behörden zu vorsichtig?

Mitnichten, denn es gibt weitere Aspekte zu bedenken. Da wäre zunächst das Mutationsverhalten von MPX. Grundsätzlich mutiert jeder Virus – spätestens seit Covid-19 dürfte dies Allgemeinwissen sein. Auffällig ist allerdings, dass sich der aktuelle MPX-Stamm im Vergleich zu den verwandten Pockenviren aus den Jahren 2018 und 2019 wesentlich schneller verändert hat als erwartet. Bereits jetzt gebe es 50 Unterschiede im Erbgut, so ein Forschungsteam aus Portugal. Die Fachleute sind aktuell der Auffassung, dass Enzyme des menschlichen Immunsystems für die Veränderungen im Erbgut verantwortlich sind und sprechen von einer “beschleunigten Evolution“. Die Mutationsrate sei „in der Tat überraschend hoch“, so Richard Neher aus Basel, einer der europaweit führenden Experten für die Evolution von Viren. Das allein reicht noch nicht aus, um die Gefährlichkeit des Virus in der Zukunft korrekt einzuschätzen, aber: „Eine weitere Verbreitung der Affenpocken sollte jetzt so gut wie möglich verhindert werden – einerseits, um Krankheitsfälle und auch schwere Verläufe in der aktuellen Situation zu vermeiden, andererseits, um zu verhindern, dass sich Affenpocken als Infektionskrankheit in Deutschland etablieren. Sollte dies passieren, wäre mittelfristig auch mit Fällen in besonders gefährdeten Gruppen zu rechnen. Außerdem besteht immer ein gewisses Risiko, dass sich das Virus verändert und möglicherweise auch krankmachender werden könnte“, so das RKI.

Mehrfach warnten Gesundheitsorganisationen wie die WHO auch vor Sommerevents und Pride-Veranstaltungen, bei denen gerade hauptsächlich die am stärksten betroffene Risikogruppe MSM zusammentreffen. Immer wieder wurde dabei auf die Eigenverantwortlichkeit eines jeden Einzelnen verwiesen. Bisher haben nur die Betreiber einer einzigen großen Partyreihe in New York reagiert und im Juli das Event aufgrund einer möglichen Ausbreitung von MPX abgesagt. Dass verschiedene Gay-Happenings seit Mai die Ausbreitung des Virus höchstwahrscheinlich beschleunigt haben, bestätigte inzwischen auch das Gesundheitsamt Berlin: „Die Ermittlungen der Berliner Gesundheitsämter haben ergeben, dass zu Beginn des Ausbruchs in Berlin, große Events wie die GayPride Maspalomas in Gran Canaria, das Darklands Festival in Antwerpen oder auch die Snax-Party in Berlin bei der Übertragung eine Rolle gespielt haben könnten. Allerdings stecken sich viele Fälle auch außerhalb großer Events/Partys an. Insgesamt stecken sich die meisten Fälle in Berlin an und mehr als die Hälfte haben im angenommenen Infektionszeitraum Sexpartys oder Clubs besucht. Etwa 20 Prozent der Berliner Fälle haben sich aber auch während Aufenthalten außerhalb Deutschlands angesteckt, wo häufig ebenfalls der Besuch von Clubs oder Festivals angegeben wurde.“

Auch hier lohnt sich ein Blick ins Detail: Demonstrationen und Freilichtveranstaltungen an sich werden nach aktuellem Stand nicht als Beschleuniger der Virusausbreitung angesehen. Auch das RKI bestätigt dabei: „Eine Übertragung über Aerosole ist nach aktuellem Kenntnisstand unwahrscheinlich.“ Allerdings ist vielen dieser Events zu eigen, dass es oftmals nicht bei der reinen Demonstration unter freiem Himmel bleibt – die Party geht gerne einmal im privaten Bereich inklusive zahlreicher flüchtiger Sexualkontakte weiter. Genau hier besteht aktuell allerdings die größte Gefahr, sich mit MPX anzustecken und das Virus so auch weiterzutragen. Mit einer gewissen Angespanntheit blicken so Fachleute und Virologen jetzt auf die weiteren Entwicklungen in diesem Monat gerade in der Hauptstadt Berlin. Zwei Drittel aller deutschlandweiten Fälle werden seit Wochen hier verzeichnet. Dazu kommt, dass die Berliner Verwaltung den Impfstart trotz bereits vorhandener Dosen um mehr als zwei Wochen verschleppt hatte – der Grund waren bürokratische Unklarheiten zwischen der Kassenärztlichen Vereinigung und der Gesundheitsverwaltung. Nach Aussage des Tagesspiegels scheiterte es daran, dass der Vertrag lange Zeit nicht unterschrieben worden war. Die Nachfrage gerade in der Berliner Gay-Community ist indes sehr groß, das bestätigten mehrere Fachärzte und HIV-Schwerpunktpraxen.

Affenpocken: Hysterie oder langfristige Gefahr?

Auch Holger Wicht von der Deutschen Aidshilfe zeigte sich verärgert über das Verhalten in Berlin: „Der Impfstoff ist bereits seit einiger Zeit verfügbar. Es geht hier immerhin darum, Menschen vor einer ernst zu nehmenden Infektion mit teils sehr schmerzhaften Folgen zu bewahren!“ Und gegenüber der Tagesschau erklärte Mitte Juli Michael Rausch, Hausarzt mit Schwerpunkt Infektionskrankheiten mit einer Praxis direkt am Nollendorfplatz in Berlin-Schöneberg: „Dass es gerade hier im Hotspot so spät losgeht, ist suboptimal. Wir hätten gerne früher gegengesteuert. Gerade jetzt in der Prideweek. Es dauert ja immerhin auch noch 10 bis 14 Tage bis der Impfstoff überhaupt wirkt.“ Insgesamt 22 Praxen bieten die Impfung jetzt in Berlin an, dazu mehrere Krankenhäuser – die rund 8.000 Dosen nur für Berlin werden dabei nach aktuellem Stand spätestens im Laufe dieses Monats aufgebraucht sein. Die zweite Impfdosen-Lieferung wird dann irgendwann im dritten Quartal erwartet. Geimpft wird in einer Zweifach-Dosierung im Abstand von bis zu 28 Tagen mit dem allgemeinen Pockenimpfstoff Imvanex, der in hohem Maße auch gegen MPX helfen soll. „Wir müssen erst Erfahrung damit sammeln. Doch es ist wichtig, dass wir ihn haben. In meiner Praxis gibt es viele Patienten mit einer HIV-Infektion. Die fürchten, dass eine Infektion mit Affenpocken für sie schwere Folgen haben könnte. Diese Patienten können wir nun besser schützen“, so Rausch weiter. Die Impfung schützt nach letztem Stand generell auch Menschen mit HIV, laut der Deutschen Aidshilfe wurde jedoch bei Personen mit einem geschwächten Immunsystem (100 bis 750 Helferzellen pro Mikroliter Blutplasma) beobachtet, dass die Impfwirkung geringer ausfallen kann. In Berlin kommt zudem zum Tragen, dass die Community im Juli das größte lesbisch-schwule Straßenfest Europas mit rund 350.000 Besuchern und den CSD mit bis zu einer Million Teilnehmern feierte. Bei beiden Events ist klar, dass im intimen Rahmen gerne weitergefeiert wird. So könnte das Ineinandergreifen dieser drei Komponenten – Gay-Megaevents, verstolperter Impfstart und Virus-Epizentrum Nummer Eins Berlin – zu einem rapiden Anstieg der Fallzahlen in den kommenden Wochen führen.

Aber warum sind die Virusinfektionen in manchen Regionen besonders hoch?

In Europa gehören Spanien, Großbritannien und Deutschland zu den Hotspots auf dem Kontinent. Es gibt aktuell nur Vermutungen, warum gerade jene Länder so mit MPX zu kämpfen haben: Sowohl einzelne Regionen Spaniens wie auch die MPX-Epizentren Berlin und London gelten als die sexpositiven Partyhochburgen in der Gay-Community, sodass sich hier das Virus aktuell leichter und schneller verbreiten kann. In Großbritannien zeigte sich in den letzten Monaten zudem auch, dass die Gesundheitsbehörden schlicht überfordert mit der Situation waren. Mehrfach berichteten infizierte Männer, dass die Behörden sich teils über Wochen nicht bei ihnen gemeldet hatten, um die Kontaktwege nachzuvollziehen, damit die Verbreitung zeitnah eingedämmt werden hätte können. Zeitgleich während jetzt in Deutschland und Großbritannien Mitte Juli jeweils über 2.000 Fälle verzeichnet worden waren, erklärte Dr. Anthony Fauci, der Direktor vom Nationalen Institut für Infektionskrankheiten in Amerika: „Dies ist etwas, das wir definitiv ernst nehmen müssen. Wir kennen das Ausmaß und das Potenzial der Krankheit noch nicht, aber wir müssen davon ausgehen, dass sie sich noch viel weiter ausbreiten kann, als es jetzt der Fall ist.“ Aktuell verlaufen die meisten Fälle von MPX in allen Ländern dabei noch sehr milde, rund 15 Prozent der Infizierten sind aber aufgrund starker Schmerzen und hoher Fieberschübe stationär zur Behandlung im Krankenhaus.

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