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Leserumfrage War früher wirklich alles besser?

vvg - 06.09.2018 - 07:00 Uhr

Ja, das empfinde ich so. Als ich Germany vor 11 Jahren verließ, war schwules Leben noch intensiv und vielfältig. Ich lebe heute in Singapur, habe aber auch in Washington DC, SF, Sydney und Melbourne gelebt und merke hier bei meinem Besuch, dass in Germany in vielerlei Hinsicht Stillstand herrscht; es hat sich nicht weiterentwickelt. Ende der 90er/Anfang 2000 waren wir closer zusammen. Heute gibt es viele Splittergruppen, jeder macht sein eigenes Ding. Ich war Gast beim Cologne Pride und denke, auch wenn er 1,2 Millionen Menschen anzieht, steht doch der Kommerz an erster Stelle. Wie viele Leute wissen überhaupt, warum CSD gefeiert wird?
In Singapur feiern wir jährlich den „Pink Dot“. Beim ersten Treffen kamen 2.000; heute sind es 25.000 Leute. Alle tragen pink, um aufzuzeigen, dass es uns gibt und dass wir das Recht haben, da zu sein. Die asiatischen Länder haben sich in den letzten vier Jahren sehr entwickelt. Obwohl Homosexualität noch als Straftat gilt, lässt die Regierung der Community ihre Freiheiten; solange die sich benehmen. Wir haben in Singapur mittlerweile mehr Gay-Bars, Saunen und soziale Gruppen, als es in Köln je gab. Für vier Jahre in denen sich Shanghai, Hongkong, Taiwan, Südkorea, Japan und Singapur entwickelt haben, bräuchte Deutschland mindestens 20 Jahre. Auch der Travestie-Bereich hat sich verändert, der Bedarf ist nicht mehr da. Wir waren nicht nur „bitchy“, wir mussten was leisten, um auf der Bühne zu bestehen.
Ich wünsche der jungen Generation, dass sie außerhalb von Socialmedia, die wahre Bedeutung von Freundschaft kennen lernt. Freundschaft entsteht durch Kommunikation und durch Bereitschaft, sich verwundbar darzustellen. Ein Chat ist nicht das Gleiche wie eine Unterhaltung von Face to Face. Ich weiß nicht, wie das Drücken der Tastatur auf einem Smartphone zu einer intensiven Beziehung führen soll.
Chaqa - Weltreisender - lebte von 1989 bis 2007 in Köln

Eine generelle Aussage ist subjektiv, die Definition von „besser“ ist für jeden anders. Heute können wir zwar heiraten, aber in den 80er/90er Jahren herrschte mehr Aufbruchsstimmung. Lesben und Schwule eroberten mit den CSDs die Straßen und die Gesetzgebung in vielen Ländern wurde liberalisiert. In diese Zeit fiel auch der Beginn der AIDS-Krise, aber die Bewegung der Homosexuellen erlebte dadurch eine verstärkte Professionalisierung. Die Krankheit brachte viele dazu, sich für die Community zu engagieren. In diesen Jahren wurde die Szenegastronomie offen und einsehbar. In den 90ern boomte die Szene und z.B. Köln lag nach veröffentlichten Rankings weltweit ganz vorn. Die buntgemischten Partypeople standen Schlange, um die weitbekannten Clubs zu besuchen. In Köln wurde als Treffpunkt schwuler Kultur ein Buchladen eröffnet und selbst im Karneval mischten Schwule und Lesben kräftig mit. Der Narrenruf „Aloha“, und die Rosa Sitzung wurden geboren. An der Hohen Pforte versammelte sich die Community zum Rosenmontagszug. Deren dortiger auffälliger Präsenz zollten demonstrativ händchenhaltende Gardisten und Tanzmajore Anerkennung.
Derzeit ist weltweit eine Stimmungswende zu beobachten. Konservative Regierungen profilieren sich mit anti-homosexuellen Ressentiments, und versuchen das Rad der Geschichte zurückzudrehen. Jede Zielgruppe feiert an wechselnden Örtlichkeiten, die gastronomische Szene ist merklich geschrumpft, am Zugweg gibt es keinen zentralen Treffpunkt mehr und der Buchladen ist geschlossen. Zahlreiche, früher sehr beliebte Treffpunkte unter freiem Himmel sind aus der Mode gekommen. Sehr vermisse ich in Köln das Schwulen- und Lesbenzentrum „SCHULZ“. Die Nachfolger „anyway“ und „rubicon“ sprechen nur bestimmte Zielgruppen an. Die Möglichkeit sich zwanglos an einem geschützten Ort außerhalb der kommerziellen Szene generations- und geschlechterübergreifend zu vernetzen und die Community in ihrer ganzen Vielfalt zu erleben, fehlt.
Jörg Lenk, Köln

Früher war alles besser. Es muss stimmen, denn das sagten schon meine Mutter, mein Großvater und ich glaube auch meine UrUrUr-Großmutter. Klar war früher alles besser, da wir jünger, fitter, offener, lebenshungriger, neugieriger und was weiß ich noch alles waren. Jede Zeit hat ihren Reiz, solange man offen bleibt für Neues und an der Gesellschaft teilnimmt. Die Gesellschaft besteht aber nicht nur aus Gleichaltrigen. Der Mensch ist ein Gewohnheitstier, alles soll immer so bleiben, wie es ist, die immer latente Angst vor einer unbekannten Zukunft lähmt uns und so wird die Gegenwart Scheiße. Immer wieder kommt eine neue Generation nach, die ebenfalls Ansprüche an die Gegenwart und die Zukunft hat. Jung sollte sich für Alt interessieren und Alt sollte offen sein für Ideen und Visionen der Jungen, sie dabei unterstützen, aber auch einfach mal machen lassen. Als Endvierziger ist mein Freundes- und Kollegenkreis eher jünger als gleichaltrig. Durch meinen Beruf als Choreograph muss ich offen sein für neue Trends und Ideen, um selbst Neues schaffen zu können. Ich finde wir erleben gerade eine sehr unterschiedliche neue Generation. Die eine Hälfte ist von uns verzogen worden, die andere Hälfte ist extrem kreativ, innovativ, politisch und sozial denkend.
Ich glaube, bedingt durch den konservativen Rollback, dass sich neue Schutzräume für queere Menschen bilden werden und eine neue queere Subkultur entstehen wird. Ob dieses queer nur schwul, lesbisch, bi, trans, oder auch querdenkende Heteros umfasst, wird sich zeigen. Manchmal ertappe ich mich dabei, dass ich sage „Es wird immer schlimmer.“, aber dies sind meist Situationen, in denen sich Gleichaltrige oder motzige Senioren danebenbenehmen, die gerne schimpfen, dass früher alles besser war. „Jede Zeit ist meine Zeit“ sagte Lotti Huber. Und wie die gute Lotti wünsche ich mir noch viel spannendes Neues - gestern ist vorbei.
Sten Kuth, Berlin
 

Ich bin vor 75 Jahren in Hagen geboren und habe mich mit 20 in München geoutet. Dort hat mich ahnungsloser, dummer Junge ein 11 Jahre älterer, weltgewandter Mann ins schwule Leben eingeführt. War früher alles besser? Nein, aber anders. Früher waren die Treffpunkte für Schwule hauptsächlich Klappen, die gibt es heute gar nicht mehr. Damals hat man über gekaufte schwule Printmedien Info über Gay-Life erhalten, heute funktioniert das alles übers Internet. Ging man früher aus, wurde man am Eingang erst nach einer Prüfung durch ein Guckloch hineingelassen. Drinnen war man mehr oder weniger in einem Ghetto, aber sicher. Heute sind die Kneipen für jedermann geöffnet, aber nicht sicher. (Je offener der Schützengraben, desto eher schlägt was ein.) Die Szene hat zusammengehalten, jeder traf auf jeden. Heute trifft man in den Lokalen seinesgleichen, weil man nicht nur nach Alter und Jugend, sondern auch nach Fetisch trennt. Früher hat man auch geflirtet, das hat man total verlernt; da schaut jeder nur noch aufs Handy. Heute kann man sich kaum noch unterhalten; die technische Entwicklung hat das kaputt gemacht. Heute können Schwule zwar heiraten, aber ist das notwendig? Wollten wir eigentlich nicht anders als die anderen sein? Ich persönlich bin gegen die Homo-Ehe, aber das muss jeder selber wissen. Das eigentliche Sexverhalten hat sich wohl nicht verändert, wir haben früher auch schon viele Sauereien gemacht, heute ist man lediglich durch Viagra oder Drogen enthemmter. Früher ging man mittwochs, freitags, samstags aus, um Leute zu treffen. Das hat sich durch die finanzielle Situation auch verändert und abgesehen davon, existieren die meisten Lokale gar nicht mehr. Das Gemeinschaftsgefühl von damals ist fort, heute ist man eher Einzelgänger und -kämpfer.
Jürgen Sch. Köln
 

Wir Menschen haben einen interessanten Umgang mit Vergangenheit: Was schlecht war, vergessen wir. Was einigermaßen gut war, verklären wir. Und es war Vieles schlecht: Seit dem Kaiserreich, später von den Nazis und nach ’45 wurden von Strafverfolgungsbehörden „Rosa Listen“ geführt, die der Sammlung von Daten über – tatsächlich oder vermeintlich – schwule Männer dienten. Homosexualität war bis 1969 grundsätzlich strafbar. Erst 1994 wurde der §175 endgültig abgeschafft. Coming Out in den 50er, 60er und 70er Jahren? „Role Models“ für schwules Leben, Identifikationsfiguren, Präsenz von Lesben und Schwulen in den Medien? Fehlanzeige! Abgesehen vielleicht von Schlagzeilen wie „Mord im Homosexuellenmilieu“. Es gab keinen Ralf Morgenstern, Klaus Wowereit, Thomas Hitzlsperger. Schwulsein hatte etwas Anrüchiges und einen depressiven Touch. Ein Film wie "Priscilla - Queen of the Desert" war damals ebenso undenkbar wie Gay Pride, Gay Games, SC Janus, Bear Pride oder Folsom Europe. Schwules Landleben? I’m the only gay in the village! - wenn du jemand kennen lernen wolltest, musstest du in die Großstadt, wo man sich anonym traf. Keine schwulen Cafés, sondern verspiegelte Scheiben und ‚Bitte klingeln’. Heute weiß man mit ein paar Klicks im Net, wer bei dir in der Nachbarschaft wohnt. Und dann die Mythen: früher war mehr Gemeinschaft, die verschiedenen „Szenen“ mischten sich. Stimmt das wirklich? Klar, wenn es nur eine Kneipe gab, dann waren dort eben alle. Früher lebten Lesben und Schwule unter anderen Bedingungen, früher war auch mehr Lametta. Dafür gibt es heute mehr Männer mit Bart! Leben ist Veränderung. Wer sich nicht verändert, sondern immer so leben möchte wie vor 50 Jahren, verpasst die Möglichkeiten von heute. Es liegt nicht am Internet, nicht an Gayromeo, Scruff oder Growlr, wenn wir uns nicht mehr einfach auf ein Bier treffen, um zu quatschen oder kreative Aktionen zu planen. Es liegt an uns selber.
Uwe aus Karlsruhe & Herbert aus Köln

Als ich jung war und in Kassel lebte, war schon einiges anders: man konnte sich noch mit seinen Mitmenschen unterhalten. Man flirtete und kam über Augenkontakt folgerichtig ins Gespräch. Heutzutage ist das anders: die jungen Leute können gar nicht miteinander reden; sie wissen kaum, was Kommunikation überhaupt ist. Blickkontakt entsteht selten, da sich jeder nur mit dem Handy oder Smartphone beschäftigt. Zu meiner Zeit war die Szene auch noch nicht so offen. Meist musste man an einer schwulen Kneipe schellen und wurde erst nach kurzer Musterung durch eine Luke in der Eingangstür eingelassen. Heute ist das ins Gegenteil umgeschlagen: Die Kneipen sind offen und von außen einsehbar, doch die Jugend geht lieber in heterosexuelle Kneipen, angeblich „weil man die einschlägige Szene gar nicht mehr braucht!“. Durch das Kneipensterben ist die Szene geschrumpft und existiert in kleineren Städten gar nicht mehr. Ich war in meiner Sturm- und Drangzeit ein regelmäßiger Szenebesucher; meistens ging man neben dem Wochenende auch mittwochs aus: immer mit dem Ziel, jemanden kennenzulernen oder abzuschleppen. Heute schaut man auf bestimmte Apps, um zu wissen, wo man was „reißen“ kann oder man sitzt am PC und bestellt sich die Leute nach Hause; wobei man dann in der Regel spätestens an der Tür eine Überraschung erlebt. Ob die schwule Welt früher ehrlicher als heute ist, wage ich zu bezweifeln; allerdings ging man respektvoller miteinander um. Heute lebt man egoistisch, nimmt keine Rücksicht auf andere. Hätte man uns früher gesagt, dass Schwule irgendwann heiraten dürfen, hätten wir gefragt, wie das Märchen heißt. Heute ist die Ehe für alle ein normaler Vorgang geworden, da ist sogar eine Scheidung zum Ehe-Alltag nichts unnormales mehr.
Uwe aus Euskirchen
 

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