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Edouard Louis // © Joel Saget

Roman Edouard Louis' Roman: Im Herzen der Gewalt

kk - 26.12.2018 - 07:00 Uhr

Der französische Bestsellerautor Édouard Louis wird von Presse und Publikum als radikale, wilde und junge Stimme im Literaturzirkus gefeiert: Sein autobiografischer Roman „Im Herzen der Gewalt“ ist eine schonungslose Selbstbetrachtung, denn er beschreibt darin kompromisslos seine eigene Vergewaltigung. „Im Herzen der Gewalt“, erschienen im August 2017. Es ist erst der zweite Roman von Louis, doch in ihm wird bereits die erzählerische Kraft dieses jungen Autors deutlich. Das Buch kreist um eine fatale Nacht, die das Leben des Ich-Erzählers zerstört hat. Diese furchtbare Nacht hat Louis selbst durchlitten, durch die Erzählung will er sich davon nicht nur befreien, sondern auch einen konsequenten Blick darauf lenken, wie schlimmer Ereignisse nicht nur das Selbst-, sondern auch das Fremdbild prägen.

Was ist also geschehen, in jener Nacht, die auch noch Heiligabend ist? Der Ich-Erzähler Édouard trifft in Paris auf den jungen Reda. Er nimmt den Immigrantensohn mit Wurzeln in Algerien nach einem kurzen Flirt mit zu sich nach Hause, die beiden haben mehrfach miteinander Sex und die Intimität ist eine gewollte, besondere. Doch von einem Moment zum nächsten kippt die Situation und Édouard erlebt ein Martyrium, in dem er bedroht und vergewaltigt wird. In fast sachlichem Ton beschreibt er das Furchtbare so: „Als er mich vergewaltigte, schrie ich nicht, aus Angst, er könnte auf mich schießen. Ich rührte und regte mich nicht. Mit trockenem Klatschen rammte mich sein Becken. Ich konzentrierte mich auf das Pfirsicharoma“.

Verletzt und verstört sucht er Schutz bei seiner Schwester Clara, die ihrem Mann die Geschichte erzählt – Édouard hört hinter der Tür versteckt alles mit an. Dieser erzählerische Kniff erlaubt es dem Schriftsteller auch die Sichtweise und Charakterisierung der Schwester miteinzubinden, während er selbst um seine eigene Wahrnehmung kämpft. Weder die Polizei noch die Psychologen helfen ihm nicht weiter, er hat das Gefühl sein Schicksal gehöre nun den Akten der Justiz. Also entschließt er sich zu einer unbarmherzigen „Gesprächstherapie“ und erzählt jedem seine Geschichte – ob dieser sie nun hören will oder nicht.

Buchcover Im Herzen der Gewalt // © Fischerverlage


So radikal wie er zu anderen ist, ist Édouard aber auch zu sich selbst, denn neben der Vergewaltigung kommt Paranoia hinzu: Bei jedem arabisch, algerisch oder afroamerikanisch aussehenden Mann bekommt er Angst und diese rassistischen unterbewussten Gedanken machen ihm genauso viel Angst. Ungeschönt heißt es dann im Buch: „Ich war zum Rassisten geworden. Der Rassismus, also, was ich immer als das meinem Wesen radikal Entgegengesetzte empfunden hatte, das absolut andere meiner selbst, erfüllte mich unvermittelt, ich war die anderen geworden“. Die anderen, das sind die Kleingeister seines Dorfes, aus dem er einst nach Paris floh, um zu beweisen: Ich bin nicht so wie die. Doch nun, mitten im pulsierenden Paris holen ihn die rassistischen Vorurteile und Strukturen ein.

Mit diesem mutigen Satz ist klar, dass „Im Herzen der Gewalt“ nicht nur ein autografisches Schicksal beschreibt, sondern darüber hinaus ein gesellschaftspolitisch höchst brisantes und hellwaches Werk ist. Édouard Louis hat für diese Art zu schreiben den Begriff der „konfrontativen Literatur“ geprägt und ja, seine Romane (auch sein Debüt „Das Ende von Eddy“, in dem er von seiner Kindheit in ärmlichen Verhältnissen und seiner Flucht aus einem Dorf nach Paris erzählt) sind eine Konfrontation: Mit sich selbst, mit der Gesellschaft und Politik, mit dem Leser.

Gerade mal 1992 geboren beschreibt der literarische Shootingstar mit Sprachgewalt und Stärke, wie es ist, in unserer heutigen Welt zu leben: Der Leser soll und darf sich davon nicht abwenden. Die Wirklichkeit ist geprägt von Staatsmännern, die wieder Gewalt in die Welt bringen. Rechtspopulisten schreien genauso nach Grenzen und Gewalt, was den Louis beunruhigt. Er sehnt sich nach Gleichheit und sagt in einem Interview mit dem Deutschlandfunk dazu: „Morgens, wenn ich aufwache, denke ich nicht als Erstes, ich bin Franzose, sondern meine Identität ist, Künstler zu sein, schwul zu sein“.

Es geht also letztendlich im Werk von Louis auch darum, das heutzutage immer wieder wacklige Gerüst von Wahrheit und Wirklichkeit vs. Fiktion und Fake-News in Ordnung zu bringen: Er macht dies mit einer schonungslosen Sprache, die der Angst und Angstmacherei aus dem Weg geht. „Im Herzen der Gewalt“ zeigt, wie schnell uns Hass innerlich auffressen kann, wie sich Ressentiments schleichend in unsere Herzen und Hirne einfressen können. Insofern ist das Buch existenziell im wahrsten Sinn, denn es kämpft ums Überleben der eigenen Wahrheit, der eigenen Würde und der eigenen Wirklichkeit.

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