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Grundgesetz und Pride-Forderungen // © simpson33

Die Dekadenz unserer Community? Verzettelt sich die Community in Details?

ms - 20.05.2022 - 09:00 Uhr

Kommentar

Drei, Zwei, Eins – Shitstorm. Und los geht es. Wollen wir uns heute einmal kurz die Frage stellen, wie dekadent die queere Community teilweise inzwischen geworden ist? Oder geworden sein könnte? Vielleicht, ja, vielleicht ist das Ganze auch nur Auslegungssache. Blicken wir auf zwei Gegebenheiten in dieser Woche: In Berlin werden 100.000 Unterschriften an den Queer-Beauftragten der Bundesregierung übergeben, um dem Wunsch nach einer Grundgesetzänderung mehr Nachdruck zu verleihen. Konkret geht es darum, im Artikel 3 Absatz 3 des Grundgesetzes den Passus der “sexuellen Identität“ als besonders schützenswert neben anderen Aspekten wie Sprache, Heimat, Glaube, Herkunft oder Geschlecht aufzunehmen. Als Lehre aus den Gräueltaten der Nationalsozialisten wurde hier explizit auf marginalisierte Gruppen noch einmal hingewiesen, denn grundsätzlich klärt bereits Absatz 1 des Artikels alles: Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.

 

Natürlich wäre es zu begrüßen, wenn auch die queere Community als besonders schützenswert mit ins Grundgesetz aufgenommen wird, dennoch muss festgehalten werden, dass wir das rein formal vor dem Gesetz bereits sind – gleichberechtigt. Freilich, die Realität ist eine andere, die Hassverbrechen gegen LGBTI*-Menschen schießen in die Höhe, doch lasst mich ketzerisch nachfragen: Würde daran eine Grundgesetzänderung irgendetwas ändern? Packen homophobe Schläger ihre Fäuste wieder wutschnaubend in die Hosentasche, wenn zwei Mal in einem Grundgesetztext erklärt wird, dass auch homosexuelle Menschen bitte gleich behandelt werden sollen?

 

Zudem: Es gäbe wichtige Aspekte, die wir tatsächlich umsetzen könnten, um die Lage für queere Menschen in Deutschland zu verbessern, dazu gehört ein Nationaler Aktionsplan, kurz gesagt mehr Bildung, mehr Aufklärung, mehr Sichtbarkeit. Ja, dieses Vorhaben ist auch in Planung, aber könnten wir das Ziel nicht schneller erreichen, wenn wir symbolträchtige aber letztlich nicht durchführbare Prestige-Projekte hinten anstellen? Denn genau das ist die viel beschworene Grundgesetzänderung: Undurchführbar. Es bräuchte die Stimmen der CDU/CSU, um diese Änderung durchzuboxen – ein Vorhaben, das realistisch gesehen zum Scheitern verurteilt ist. Das liegt mit Sicherheit auch an der Union, die wohl sehr ungern einen politischen Punktesieg den Parteien überlassen will, die sie von der Regierungsbank gekickt haben – oder ist euch Friedrich Merz als sympathischer queerer Weltenversteher in Erinnerung? –, aber zum anderen kann sich die Community selbst auch nicht darauf festlegen, welche Begrifflichkeit konkret ins Grundgesetz soll. Sexuelle Identität? Geschlechtliche Identität? Etwas ganz anderes?

 

Gleichzeitig in dieser Woche erschien der Forderungskatalog des Berliner CSD. Viel Sinnvolles lässt sich darin finden, dazwischen allerdings auch Statements wie diese: „Wir fordern, dass bei der Geburt kein Geschlecht mehr festgelegt werden muss – Wir fordern eine Verwendung geschlechtsneutraler Ansprachen bei Schriftverkehr durch Behörden und öffentliche Einrichtungen – Wir fordern die komplette rechtliche Anerkennung von mehr als zwei Geschlechtern und die Abschaffung von zusätzlichen, vom Geschlecht abhängigen, Hürden – Um ein zeitgemäßes, gesellschaftliches Familienbild zu bewirken, fordern wir geschlechtsneutrale Formulierungen von Mutter und Vater zu „Elternteil 1 und Elternteil 2“, so dass auch trans* Eltern und Eltern mit dem Personenstand “divers” korrekt in die Geburtsurkunde ihrer Kinder eingetragen werden können.“

 

Natürlich lässt sich über diese Forderungen trefflich streiten und das wird auch gerne und lautstark digital bereits getan. An anderer Stelle ist in den Statements des CSD nur noch von FLINTAS die Rede, Frauen allein scheinen keine große Rolle mehr zu spielen, was alle Lesben sehr freuen dürfte. Doch angesichts realer und massiver Bedrohungen für die Lebensrealität queerer Menschen in Europa, angesichts der Tatsache, dass Homosexuelle in 69 Ländern noch verfolgt und teilweise mit dem Tode bedroht werden, und angesichts der Entwicklung, dass Anfeindung, Hass und Ausgrenzung gerade auch von jungen queeren Menschen immer mehr zunimmt, fordern wir in Deutschland, dass man nicht mehr von Mutter und Vater sprechen soll? Und das alle Behörden künftig munter gendern müssen, auch wenn immer wieder betont wird, wie freiwillig das Gendern doch wäre? Kinder sollen geschlechtslos in die Geburtsurkunde eingetragen werden und alle Behörden, Unternehmen und Einrichtungen in Berlin sollen ungefragt annehmen, dass es mehr als zwei Geschlechter gibt – eine Aussage, die bis heute gerade von medizinisch wissenschaftlicher Seite stark umstritten ist. Wäre hier nicht ein Diskurs nötig? Vielleicht, nachdem wir die dringenderen Probleme, die uns tagtäglich bedrohen, in den Griff bekommen haben? Zum Beispiel, dass realistisch geschätzt es allein in Deutschland jeden Tag zu 30 Angriffen auf queere Menschen kommt?

 

All diese Punkte können, sollen, müssen diskutiert werden – und das sehr gerne! Dazu bedarf es einer offenen Gesprächsrunde ohne Denkverbote. Doch aktuell schaffen wir mit solchen Forderungen mehrheitlich nur eins: Das Unverständnis gegenüber queeren Menschen in der Gesamtbevölkerung wächst immer weiter. Wir können das ignorieren, wir können freimütig erklären, dass alle, die nicht jeder Forderung von uns sofort zustimmen, eben einfach konservative Ewiggestrige sind. Am Ende wird uns diese Weltsicht aber nicht weiterbringen, sie wird uns nur weiter isolieren, bis sich kaum noch jemand für eine queere Minderheit interessiert, die die meisten Mitmenschen immer mehr als dekadent wahrnehmen werden. Dann hilft uns auch kein Eintrag im Grundgesetz mehr. Veränderungen und Verbesserungen funktionieren nur mit der Mehrheit einer Gesellschaft und nie auf Dauer gegen sie.  

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