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Unwahrheiten und scheinheilige Versprechen als Heilsbotschaft

Kommentar: Die Verlogenheit der Kirche Unwahrheiten und scheinheilige Versprechen als Heilsbotschaft

ms - 28.01.2022 - 17:30 Uhr

Manchmal muss ich zu meinem persönlichen Bedauern eingestehen, dass ich ein gut funktionierendes Langzeitgedächtnis habe – im Gegensatz zum emeritierten Papst Benedikt arbeitet dies auch, wenn ich mich an unangenehme Dinge in der Vergangenheit erinnern muss oder möchte. Leider erinnere ich mich noch bestens an die ganzen Missbrauchsskandale in der römisch-katholischen Kirche in den letzten Jahrzehnten, an die Stimmen der Opfer, die stets ignoriert, verharmlost oder kleingeredet worden sind. Dann kamen die ersten Gutachten, 2010 dann der erste große Knall und diverse Beteuerungen, dass nun alles besser werden würde. Das mediale Spektakel wiederholt sich in diesen Tagen abermals.

Nach dem erschütternden zweiten Gutachten der Münchner Anwaltskanzlei Westphal, Spilker und Wastl vor einer guten Woche (SCHWULISSIMO berichtete), steht abermals unumstößlich fest, wie machtversessen, krank und uneinsichtig die führenden Köpfe der Organisation Kirche sind. Wie verlogen sie sind – und das bis ins allerhöchste Kirchenamt hinauf. Einer der drei Rechtsanwälte aus München, Dr. Ulrich Wastl, stellte am Ende des Gutachtens die eine entscheidende Frage: Wie viele Gutachten braucht das Land eigentlich noch? Es sei alles bereits gesagt worden, die Faktenlage eindeutig. Die Beschreibungen und die Martyrien der zahllosen Opfer der katholischen Kirche sind eigentlich schrecklich genug, viel dramatischer ist aber eine Tatsache, die das Gutachten abermals auf den Tisch gebracht hat: Es gibt keine wirkliche Einsicht in der katholischen Kirche. Keine ernsthafte Reue. Auch nach dem ersten Gutachten vor rund zwölf Jahren machten die Kirchenoberen weiter wie bisher – vertuschen, wo möglich. Kleinreden und wegschieben, gelegentlich medienwirksam bedauern, dann wieder leugnen bis zum Nachweis des Betrugs, ein gesenktes Kirchenhaupt, das erklärt, nun werde alles besser. Zurück auf Anfang und weiter wie bisher. 

Das Bühnenstück geht in diesen Tagen in die nächste Runde: „Mutig“ erkläre ein Kardinal Marx, dass schwule Priester zu akzeptieren seien – auch wenn er sich bisher stets dagegen entschieden hatte. Medial wird der „Mut“ des Kardinals gefeiert. Ebenso viel beachtet werden einzelne Satzfragmente von Papst Franziskus, der bei einer Generalaudienz erklärte, Eltern mögen ihre queeren Kinder nicht verurteilen. Dass er dabei zunächst generell von Eltern gesprochen hatte, die Probleme mit ihren Kindern hätten und zunächst von unheilbaren Krankheiten sprach, bevor er sich im nächsten Atemzug der sexuellen Orientierung von Kindern widmete, scheint für die Bewertung nicht wichtig zu sein. Nur zwei Beispiele von mehreren der letzten Tage. Sobald ein Kirchenvertreter geistig wenigstens das dunkelste Mittelalter überwunden hat, wird jede Aussage bereits als Heldentat gefeiert, als Wille zur Reformation. Als wären jene Herren nicht selbst Baumeister und stetige Bewahrer jener menschenfeindlichen Werte, die sie „mutig“ kritisieren. Ist es wirklich so einfach, uns immer und immer wieder zu blenden, bis die Kirche auch diese „Krise“ ausgesessen hat?

Als eine richtige Krise hat die Kirche die Gesamtsituation dabei noch nie wahrgenommen, denn eine ernsthafte Krise würde einem abverlangen, sein Leben neu zu justieren, etwas zu verändern. Das macht die Organisation Kirche nicht – im besten Fall dreht sie an einzelnen Stellschrauben, doch das System bleibt das alte. In der exklusiven ARD-Dokumentation über die rund 100 Mitarbeiter im katholischen Dienst, die sich vor wenigen Tagen als LGBTI* outeten, wurde es einmal mehr klar: Ein Großteil aller Bischöfe weltweit hat keinerlei Interesse daran, dass sich irgendetwas wirklich ändert. Die Macht liegt allein bei ihnen. Kein einzelner Priester, Bischof, Kardinal oder selbst Papst kann wirklich etwas bewirken, selbst wenn einzelne vielleicht ernsthaft von einer tatsächlichen Veränderung träumen. Diesen Einzelnen stehen über 5.300 Bischöfe weltweit gegenüber, größtenteils ältere Herren, die nichts am System ändern wollen. Würde ein Papst tatsächlich die Kirche mit ein paar wenigen Anhängern reformieren wollen, drohte die Spaltung der Kirchengemeinschaft. So etwas hat die Kirche bereits vor gut 500 Jahren mit Luther erlebt, das Drama soll sich nicht wiederholen – man ist versucht zu sagen, mancher Bischof von heute könne sich noch gut an die Zeit von damals erinnern, wenn man in die oftmals blutleeren Gesichter blickt. Es ist egal, was der Papst oder ein einzelner Vertreter der Kirche noch sagen wird, sie bleiben Marionetten des Systems.

© thanasus
© thanasus

Also, was braucht dieses Land noch, um endlich etwas zu ändern? Noch immer sind über 22 Millionen Deutsche Mitglieder der katholischen Kirche. Der Staat zahlt nach wie vor rund 540 Millionen Euro jährlich aus Steuergeldern (keine Kirchensteuer, keine Zahlung für kirchliche Einrichtungen wie beispielsweise Kindergärten!) an die evangelische und katholische Kirche. Schon vor einhundert Jahren sollte laut Verfassung damit Schluss sein, doch noch immer zahlt der Staat seit der Napoleonischen Zeit, um die Kirchen für die Verluste der Säkularisierung zu entschädigen. Kein Finanzminister hat daran bisher etwas geändert. 2019 wollte die FDP das noch zum Thema machen – bisher ist vom neuen FDP-Finanzminister Christian Lindner dazu nichts mehr zu hören. Lassen wir das machtgierige System Kirche also erneut weitermachen wie bisher?

Ein so menschenunwürdiges System, das bis heute Frauen und LGBTI*-Personen für Menschen zweiter Klasse hält, Pädophile deckt und sich so laut den Münchner Anwälten inzwischen zu Mittätern macht und sich weiterhin im Kern komplett uneinsichtig zeigt. Es war ein wirklich mutiger Schritt, das Outing der LGBTI*-Mitarbeiter der Kirche, doch darf gestattet sein zu fragen: Warum engagieren sie sich überhaupt noch dafür? Glauben sie, glauben wir nach all den Jahren wirklich noch, den „untoten Leib Kirche“ wiederbeleben zu können? Von innen heraus zu reformieren? Das ist nicht mehr Glauben, das ist kompletter Realitätsverlust. Ein letztes Mal sei gefragt: Was braucht dieses Land noch, um etwas zu verändern?

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