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Sturm im Wasserglas
Rubrik

Sturm im Wasserglas? Schadet die künstliche Aufregung der LGBTI*-Community?

ms - 26.01.2023 - 12:00 Uhr

Kommentar

Skandal! Rassismus! Queerfeindlichkeit! Viele Medien überschlagen sich heute in ihrer bitterernsten Berichterstattung über einen Faschingsumzug in Sachsen. In Prossen, einem kleinen Ortsteil in der kleinen Stadt Bad Schandau im nirgendwo der Sächsischen Schweiz fuhr bei der sogenannten Schifferfastnacht ein Festwagen durch die überschaubare Menge von Zuschauern, auf dem Menschen als Indianer verkleidet und ein Mann in Regenbogenfarben am Marterpfahl angebunden stand. Dazu prangte der Spruch am sogenannten "Asyl-Ranch"-Festwagen: „Deutschland dekadent und krank, Winnetou sucht Asyl im Sachsenland".

Angriff auf die Community?

Nun lässt sich sicherlich trefflich darüber streiten, ob die ganze Aktion lustig war oder nicht, wobei Humor ja immer im Auge des Betrachters liegt. Für die einen ist die Aktion eine Kampfansage gegen die Winnetou-Debatte rund um kulturelle Aneignung, weswegen ja auch ein Kinderbuchverlag bereits gedruckte Indianer-Bücher nach der Kritik einstampfen hatte lassen. Für die anderen geht es um deutlich mehr, ein bitterböser Angriff auf die “woken“ Denkweisen oder doch gar auf die LGBTI*-Community insgesamt?

Aufregen aus Lust an der Aufregung?

Vielleicht sollte man es in aller Deutlichkeit noch einmal sagen: Es ist Fasching beziehungsweise Karneval! Ja, auch das ist kein rechtsfreier Raum, aber geschichtlich gesehen nun einmal jene Zeit, in der kritisch und teils bis an die Schmerzgrenze geschmacklos über jene Dinge gewitzelt wird, die vielen Bürgern zu schaffen machen. Erinnern wir uns noch an jene Karnevalswägen aus Köln oder anderenorts, bei denen Päpste zu Pädophilen erklärt worden sind oder Staatenlenker wahlweise zu infantilen Kindern oder auch direkt zu bettelnden “Arschkriechern“ gemacht worden sind – zwei von vielen Beispielen. Man muss darüber nicht lachen. Man kann. Man darf das auch absolut geschmacklos finden und sagen: Ich finde das nicht lustig.  

Ein Fall von Hasskriminalität?

Wahrlich lächerlich indes ist aber, deswegen jetzt die queerfeindliche Rassismus-Keule aus dem Schrank zu holen. Die Grünen-Politikern Lydia Engelman kommentierte sogleich auf Twitter: "Leider bestätigen die Narren in Prossen ein Klischee nur zu gern: Die Sachsen sind in Teilen (r)echte Idioten". Und der ebenso grüne Europa-Abgeordnete Erik Marquardt hält mahnend fest: „Wer glaubt, dass man an Karneval Minderheiten symbolisch an Marterpfähle fesseln und gegen Asylsuchende hetzen sollte, ist hingegen einfach ein verwahrlostes Würstchen." Fraglich, ob es schon verlässliche Zahlen zur Anzahl von Indianern gibt, die in Deutschland derzeit Asyl suchen.

Wieder andere erkennen in der ganzen Aktion wahlweise puren Hass oder direkt auch eine Drohung, denn immerhin wurden früher Menschen am Marterpfahl gefoltert. Der gedankliche Weg zu einer vermeintlichen Straftat in puncto Hasskriminalität scheint nicht mehr weit. Dann stehen Indianer sozusagen direkt vor Gericht. Der Faschingsverein selbst mit seinen gerade einmal knapp 300 Teilnehmern zeigt sich vollkommen überfahren – in der kleinen Ortschaft hatte wohl keiner damit gerechnet, dass von BILD über Spiegel bis Tagesspiegel plötzlich alle nach einem Statement verlangen. Gegenüber der BILD erklärt der Verein dann auch schlicht, dass so etwas eben zur Meinungsfreiheit dazugehöre und es sich hier um Satire handele.

Was darf noch einmal Satire?

Wir erinnern uns, jene Satire, die auch die LGBTI*-Community wie auch viele Politiker richtig gut fanden, als beispielsweise ein ZDF-Moderator den homophoben türkischen Präsidenten unappetitlich mit Ziegen in Verbindung brachte. Und nochmal: Man muss weder über das eine noch das andere lachen. Aber die Freiheit der Satire sollte für alle Menschen gleichermaßen gelten, noch dazu, wenn sie so offensichtlich als Überzeichnung für jedermann erkennbar dargestellt wird.

Für die LGBTI*-Community indes besteht die Gefahr, sich durch solche Aufregungsspiralen ein Stück weit lächerlich zu machen – und damit auch die wirklich wichtigen Anliegen dem Spott preiszugeben, angefangen von einem verstärkten Einsatz gegen die tatsächliche Hasskriminalität gegenüber LGBTI*-Menschen bis hin zu vielen wichtigen Gesetzesvorhaben, die mehr Gleichberechtigung für alle LGBTI*-Menschen einfordern.

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