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Lehrer unter Beschuss

Lehrer unter Beschuss „Lehrer sollten die Möglichkeit haben, ohne Angst vor Repressalien über die komplexen Themen unserer Gesellschaft zu sprechen!“

ms - 11.08.2022 - 14:30 Uhr

Noch vor zehn oder zwanzig Jahren verfielen viele dem Klischee, so ein Lehrerleben sei ein sehr einfaches: Gerade einmal ein paar Stunden Arbeit pro Tag und rund drei Monate Urlaub im Jahr. Inzwischen ist von diesem Klischee sowohl in Deutschland wie aber auch anderenorts wenig übrig geblieben. Eine neue Studie aus den USA belegt indes sogar, wie dramatisch Lehrer inzwischen kämpfen müssen, wenn Debatten rund um Rassismus, LGBTI* und Politik ihren Weg ins Schulgebäude finden. Die USA sind in diesem Punkt aktuell zwar Vorreiter, beispielsweise mit dem berüchtigten “Don´t Say Gay“-Gesetz in Florida, welches Lehrkräften die Thematisierung von LGBTI* ganz verbietet, doch längst auch in Deutschland müssen Lehrer und Professoren an Schulen und Universitäten emotional aufgeladene Debatten um grundsätzliche Fakten führen. Allein in diesem Jahr wurden bereits mehrfach und teilweise bis heute andauernde Streitdebatten an Universitäten geführt, beispielsweise auch um die Frage der Geschlechtervielfalt.

Das Hineintragen von aktuell politischen und gesellschaftlichen Streitfragen in die Lehrräume von Schulen und Universitäten erzeugt dabei vielerorts massive Probleme. Zum einen entscheiden sich immer weniger Menschen angesichts dieser Aussichten, überhaupt noch einen Lehrberuf zu ergreifen, zum anderen fallen immer öfter auch krankheitsbedingt Lehrer aus oder geben resigniert auf. Die landesweite repräsentative Umfrage aus den USA bestätigt nun diese dramatische Entwicklung, dessen Ergebnisse durchaus auch als grober Gradmesser für Deutschland von Bedeutung sein können. Die Fakten der RAND Corporation Studie: 61 Prozent der Schulleiter und 37 Prozent der Lehrer berichten, dass sie aufgrund politischer Themen so sehr belästigt wurden, dass die Folgen berufsbedingter Stress, Symptome von Depressionen oder direkt ein Burnout waren.

„Lehrer müssen mit all diesen unterschiedlichen Überzeugungen der Menschen um sie herum umgehen, sei es die Verwaltung, ihre Kollegen, die Schüler selbst oder die Familien ihrer Schüler. Pädagogen könnten zusätzliche Unterstützung dabei gebrauchen, wie sie mit diesen schwierigen Gesprächen und manchmal auch mit diesen umstrittenen und sensiblen Themen umgehen können", so Ashley Woo, Politikforscherin bei RAND und eine der Autoren des Berichts. Wesentliche Stressfaktoren nebst Fragen zu Rassismus und Covid-19 sind Debatten rund um die LGBTI*-Community. Es geht dabei beispielsweise um die Einbindung von trans-Schülern in den Schulsport, um neu aufkommende Streitfragen in den Bereichen Biologie und Wissenschaft, die Fakten infrage stellen oder auch um die korrekte Benutzung von gewünschten Pronomen – gerade letzteres dürfte spätestens ab 2023 mit der Verabschiedung des neuen Selbstbestimmungsgesetzes auch an deutschen Schulen an Bedeutung gewinnen. Die letzte Gesetzesvorlage sieht bei Falschbenutzung eines Pronomens oder bei Deadnaming eine Ordnungsstrafe von 2.500 Euro vor.

In den USA zeichnet sich die aktuelle Lage für Lehrer dabei noch dramatischer ab, denn inzwischen gibt es laut einer Analyse von Education Week in siebzehn Bundesstaaten Verbote und Einschränkungen für die Art und Weise, wie Lehrer über Rassismus, LGBTI* und Sex sprechen dürfen. Mehr als die Hälfte der Lehrer und Schulleiter lehnen dabei ganz eindeutig gesetzliche Beschränkungen für den Lehrstoff und Gespräche im Klassenzimmer oder an der Universität ab. Bereits jeder vierte US-Lehrer wurde bereits einmal angewiesen, Gespräche über politische und soziale Themen im Unterricht einzuschränken oder ganz zu unterlassen. Die Pädagogen bestätigten zudem, dass viele Schulleitungen inzwischen Angst vor Beschwerden hätten, sowohl von Eltern als auch vom Staat. Zwischen queeren Sprech- und Denkverboten auf der einen Seite und radikal konservativen Strömungen auf der anderen Seite werden die amerikanischen Lehrer dabei immer mehr im Kulturkampf aufgerieben. Mehr als die Hälfte der Schulleiter gab in der Studie dann auch zu, mehrfach bereits von Seiten der Eltern angefeindet und verbal angegriffen worden zu sein – die Ursachen dafür sind mannigfaltig und reichen abermals von Covid-19 über Rassismus-Debatten bis hin zu queeren Streitfragen. Sarah Kate Ellis, die Geschäftsführerin der größten amerikanischen LGBTI*-Organisation namens GLAAD, erklärte: „Die Politisierung von Gesundheits-, Rassen- und LGBTI*-Themen in den öffentlichen Schulen unseres Landes stellt eine unangemessene Belastung für Lehrkräfte dar und setzt sie Schikanen aus. Lehrer sollten die Möglichkeit haben, ohne Angst vor Repressalien über die komplexen Themen unserer Gesellschaft zu sprechen!“ Eine bisher ungebremste Eskalationsspirale in den USA, ein möglicher Warnruf für Deutschland.

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