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Queer-Beauftragter Lehmann sieht keine Probleme im neuen Selbstbestimmungsgesetz // © IMAGO / Future Image
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„Alice Schwarzer hat sich verrannt!“ Neues Gesetz für Transsexuelle kommt bis Ende 2022!

ms - 24.03.2022 - 13:45 Uhr

Seit mehreren Monaten nimmt die Diskussion um das geplante neue Selbstbestimmungsgesetz in Deutschland immer mehr an Fahrt und auch Radikalität in der Debatte auf. Zuletzt sorgte ein Artikel der Frauenzeitung EMMA für ein erneutes Aufflammen der Debatte. Herausgeberin Alice Schwarzer fragt dabei, wie wir künftig „Frau sein“ definieren wollen und bezieht sich exemplarisch auf die trans-Frau Tessa Ganserer, die über die Frauenquote der Grünen in den Bundestag gekommen ist. Rechtlich wie biologisch ist Ganserer dabei noch ein Mann, so Schwarzer.  

Sven Lehmann bekräftigte jetzt im Interview mit der FAZ, wie wichtig es sei, das neue Selbstbestimmungsgesetz baldmöglichst umzusetzen. Es soll das bisherige, veraltete Transsexuellengesetz ersetzen, das zuletzt immer stärker in der Kritik stand. Bisher müssen trans-Menschen vor ihrer rechtlichen Geschlechtsangleichung zwei psychologische Gutachten vorlegen, am Ende entscheidet ein Gericht über die mögliche Anpassung in den Ausweisdokumenten. Bis zum Sommer soll es erste konkrete Pläne geben, bis Ende des Jahres hofft Lehmann jetzt, dass das Gesetz verabschiedet werden kann – der Leidensdruck der trans-Community sei einfach zu groß, um dieses Vorhaben noch länger vor sich herzuschieben.

Den strittigsten Punkten des neuen Gesetzesvorhabens begegnet Lehmann gelassen und sieht keine Probleme darin. Eine Frage dabei ist, ob biologische Frauen ihre bisherigen Schutzräume verlieren, wenn auch trans-Frauen künftig Zutritt dazu bekommen werden. Lehmann dazu:  „Wir haben intensiv mit der Frauenhaus­koordinierung Deutschland und dem Deutschen Frauenrat gesprochen. Alle sind sich einig, dass es dieses Problem nicht gibt. Es ist kein einziger Fall bekannt, in dem sich Transpersonen Zugang zu Frauenhäusern verschafft hätten und dort übergriffig geworden wären.“

Der zweite Kritikpunkt greift den geplanten Vorschlag auf, dass künftig bereits Kinder ab dem 14. Lebensjahr ihr Geschlecht auch ohne Zustimmung der Eltern ändern werden dürfen. Lehmann kontert hier:

„Jugendliche, die seit ­Jahren wissen, dass das ihnen zugewiesene Geschlecht nicht ihrer Identität entspricht, müssen eine Handhabe bekommen, dass sie nicht gegen ihren Willen von der Schule oder im Sportverein mit dem falschen Namen angesprochen werden. In der Regel sollen die Jugendlichen zusammen mit ihren Eltern die Personenstandsänderung beantragen. Wenn Eltern ihre Kinder nicht unterstützen, wäre das ein Fall für die Familiengerichte. Operative Angleichungen werden sowieso in der Regel nicht vor dem Alter von 18 Jahren vorgenommen.“

Zuletzt befürchten Gegner des neuen Selbstbestimmungsgesetzes auch, dass durch den geplanten Wegfall von bisher nötigen psychologischen oder medizinischen Gutachten sehr leichtfertig mit einer künftigen Geschlechtsanpassung umgegangen wird. Die FAZ spricht von einem möglichen Trend unter Jugendlichen, da innerhalb weniger Jahre die Zahl der jungen Menschen, die sich selbst ans transsexuell definieren, in der westlichen Welt um 4.000 Prozent angestiegen ist. Für den Queer-Beauftragten der Bundesregierung sprechen diese Zahlen trotzdem nicht für eine Art von Modeerscheinung:

„Es gibt vielleicht keine krassere Entscheidung, als seinen Geschlechts­eintrag zu wechseln. Das stellt alles auf den Kopf, Partnerschaften, die Familie, das berufliche Umfeld. Das ist sicherlich keine Modeerscheinung, das macht wirklich niemand aus Spaß. Da steht viel Leidensdruck dahinter. Dass die Zahlen steigen, liegt daran, dass die Gesellschaft offener geworden ist, dass es mehr Beratungsstellen gibt. Und natürlich machen auch Vorbilder Mut, dazu gehören auch die ersten zwei offenen Transfrauen im Bundestag.“

Herausgeberin und Autorin Alice Schwarzer würde ihm wahrscheinlich nicht zustimmen – kommende Woche erscheint ihr neues Buch zum Thema Transsexualität, welches abermals für Diskussionen sorgen dürfte. Lehmann selbst attestiert indes der Journalistin Schwarzer in gewisser Weise eine geistige Fehlentwicklung:

„Als junger Mann hatte ich jahrelang die EMMA abonniert. Ich habe alle Bücher von Alice Schwarzer verschlungen. Aber in den letzten Jahren hat sie sich verrannt, ist von alten feministischen Überzeugungen abgerückt. Zumindest habe ich den Feminismus immer so verstanden, dass es um Selbstbestimmung und um gleiche Rechte geht. Die feministische Bewegung war und ist inklusiv. Jetzt ist Alice Schwarzer dazu übergegangen zu sortieren, wer dazugehören darf und wer nicht. Damit benutzt sie letztlich Mechanismen des Patriarchats, gegen die sie sich immer aufgelehnt hat. Ich bin einfach enttäuscht von ihr (…) Ich bin überzeugt: Frauen- und queere Rechte müssen zusammen gedacht und zusammen politisch gestärkt werden, da sollte es keine Konkurrenz um Aufmerksamkeit geben. Ich finde nicht, dass man das trennen darf und sollte, und das tut die Mehrheit auch nicht.“

Ein Exklusiv-Interview mit Alice Schwarzer gibt es in der kommenden Aprilausgabe von SCHWULISSIMO. Wir sprachen mit ihr über Ganserer, Transsexualität und dem neuen Selbstbestimmungsgesetz.

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