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Ohne die Szene vermehren sich gesundheitliche Probleme

Die Gay-Community und unsere Gesundheit Ohne die Szene vermehren sich gesundheitliche Probleme

ms - 08.07.2023 - 17:00 Uhr

Eigentlich wussten wir es schon immer und hatten es nur bis vor wenigen Jahren im digitalen Dating-Wahn mit fünftausend Apps auf unseren Smartphones schlicht vergessen: Die Gay-Community und unsere schwul-lesbische Szene ist sehr wichtig für unser Wohlbefinden und unsere Gesundheit. Es ist bedauerlich, dass erst ein Störenfried wie Covid-19 um die Ecke biegen musste, damit wir uns dieser simplen Tatsache wieder mehr bewusstwerden – und noch wichtiger: wir diesen Fakt auch endlich angemessen respektieren.

Unter den letzten drei Jahren haben dabei besonders junge Menschen aus unserer Community gelitten, also all jene, die gerade erst dabei waren, durch die Szene zu streifen, Clubs, Bars und andere Treffpunkte zu erkunden. War dies bereits vor Corona zuletzt bereits eine Besonderheit geworden, weil immer mehr junge Schwule vornehmlich und ausschließlich online und digital daten und sich verabreden, zeigte sich nach dem zwischenzeitlichen Verbot realer Treffen und mehrfacher Kontaktsperren, dass die Szene immer mehr verloren zu gehen scheint. Doch vielleicht und hoffentlich trügt der Schluss auch, denn allmählich in diesem Sommer strecken auch junge Menschen wieder ihre Fühler aus und beginnen, teilweise erstmals, im Zuge von Pride-Paraden und CSDs eine schwul-lesbische Welt jenseits der digitalen zu entdecken.

Dabei geht es im ersten Schritt weniger darum, sofort den Traumprinzen zu finden, sondern mehr darum, Gemeinschaft zu erleben, andere gleichgesinnte Menschen zu treffen und sich im besten Wortsinn geborgen zu fühlen, angekommen, umarmt. Hier darfst du sein, wie du bist. Es bedarf keiner Versteckspiele, sei es nun vor den Mitschülern, den Eltern, Freunden oder Kollegen im ersten Job. Das soziale Miteinander ist gerade für Minderheiten wie Schwule, Lesben oder queere Menschen von besonderer Bedeutung, weil die Möglichkeiten dazu begrenzt sind. Umso mehr sollten wir sie schätzen. Untersuchungen wie beispielsweise von der Beratungsstelle anyway in Köln zeigen deutlich auf, was passiert, wenn wir diesen sozialen Kontakten beraubt werden. Während den drei Corona-Jahren stiegen die Fälle von psychischen Leiden unter jungen Homosexuellen massiv an, die Beratungsanfragen nahmen um fast 25 Prozent zu. „Neben den klassischen Themen wie geschlechtliche Identitätsfindung und Coming-out haben wir vermehrt auch Anfragen zu Einsamkeit, dem Gefühl des Abgehängtseins sowie Angst, Stress und Depressionen“, sagt Jugendberaterin Rabea Maas. Dabei stellten die Experten auch fest, dass die Fälle an Intensität zugenommen haben. Gegenüber anyway gaben rund 43 Prozent der Besucher in einer Umfrage an, unter Depressionen und psychischen Erkrankungen zu leiden. Jeder vierte junge LGBTI*-Mensch litt unter suizidalen Gedanken. Der wichtigste Rat für Jugendliche und junge Erwachsene, um aus dieser Spirale von Angst und Depressionen herauszukommen, ist zumeist immer der gleiche: Ab in die Szene! Treffe dich mit anderen Menschen, mit Gleichgesinnten, verbringt Zeit miteinander, tauscht euch aus. Ein Großteil aller Probleme verschwindet dabei zumeist dann innerhalb weniger Wochen, bestätigt auch Jürgen Piger von anyway.

Doch die Szene kann nicht nur jungen Menschen helfen, sie ist oftmals auch die wesentliche und wichtigste Anlaufstelle für Männer im mittleren sowie im hohen Alter. Gerade ältere Schwule spüren oftmals bis heute eine besondere Verbindung mit der lokalen Szene ihrer Region, sie erinnern sich noch an Zeiten, in denen jene Treffpunkte wie Rettungsinseln in tiefschwarzer See waren – eine Zeit vor digitalen Apps, vor Gleichberechtigung und Homo-Ehe. Eine Zeit, in der es den Begriff „safe space“ noch gar nicht gab, sehr wohl genau aber jene Szene, Bars und Clubs, die die einzigen sicheren Orte waren, an denen schwule Männer unbefangen sie selbst sein durften.

Genau jener Aspekt ist wesentlich, auch und gerade für unsere Gesundheit. Immer wieder zeigten Studien der letzten Jahre auf, wie sehr ein Leben im Verborgenen oder auch ein unterdrücktes Coming-out nicht nur die eigene Psyche nachhaltig belastet, sondern im Laufe der Jahre auch direkte körperliche Beeinträchtigungen nach sich ziehen kann: spürbarer Stress, permanente Müdigkeit, Herzprobleme, Bluthochdruck, Übergewicht, chronische Kopf- und Gliederschmerzen. Forschungen legten dabei offen dar, dass zusammen mit der Psyche auch der Körper selbst unter der Abwesenheit von Sozialkontakten immer mehr zu leiden beginnt. Social Media kann diese Lücke bei allem Spaß und Zeitvertreib nicht füllen, im Gegenteil manchmal sogar – wird der Klick ins Digitale immer mehr zur Sucht, verkommen reale soziale Kontakte immer mehr. Stichpunkt: soziale Gesundheit. Sie wird durch mehrere Faktoren definiert, darunter fällt neben einem angemessenen Einkommen, einer sozialen Sicherung und guter Bildung vor allem im Wesentlichen auch ein familiärer oder freundschaftlicher Zusammenhalt, der sprachliche Austausch und ein erfüllender Lebensstil inklusive sozialen Kontakten. All diese Punkte bestimmen letztendlich, in welchem Maß ein Mensch überhaupt soziale Gesundheit erlangen kann.

Schwule neigen mitunter dazu, ihren Körper und ihr äußeres Erscheinungsbild mit besonderer Hingabe zu pflegen – gesundheitlich durchaus eine erstrebenswerte Taktik, doch mindestens in gleichem Maße sollte das innere Erscheinungsbild eine zentrale Rolle spielen. Dieses zu pflegen oder wie unsere Muskeln zu trainieren, gelingt größtenteils im Kontakt mit anderen Menschen – und zwar mit jenen Menschen, vor denen wir uns nicht verstecken oder verstellen müssen. Blickt man beispielsweise oberflächlich auf große Fetisch-Treffen, zeichnet sich schnell das Bild einer auf Sex konzentrierten Community ab. Wie sehr das Bild trügt, erfährt man erst, wenn man mit Fetisch-Freunden tatsächlich spricht. Sex und der Fetisch rücken dann oftmals sehr schnell in den Hintergrund, was wirklich zählt ist das Miteinander, der Austausch, die Gespräche und das zentrale Gefühle, der sein zu dürfen der man ist und dafür von seinen Mitmenschen vollkommen angenommen zu werden. Ein fundamental wichtiger Aspekt für die eigene Gesundheit und für ein gesundes Selbstvertrauen.

Für schwule Männer ist die Szene auch deswegen von großer Bedeutung, weil die Community für viele die einzige wirkliche Familie ist. Glücklicherweise nimmt die Akzeptanz gegenüber LGBTI*-Menschen schrittweise auch innerhalb von Familien zu, doch gerade für viele Männer jenseits der 30er Jahre ist die biologische Familie immer mal wieder leider noch ein Begriff ohne tiefere emotionale Bedeutung. Sei es nun, weil ein Coming-out nie stattgefunden hat, weil Eltern oder Bekannte die eigene Homosexualität nie wirklich akzeptiert haben oder auch einfach nur, weil man sich im Kreis jener Familien, Tanten und Onkeln, Brüder und Schwestern samt Ehepartnern und Kindern irgendwie überflüssig, zweitrangig oder deplatziert fühlt. Die wahre Familie, die Wahlfamilie, ist die Community, sind schwule Freunde, die auch bei so manchem Liebeskummer trösteten.

Die Szene ist auch dann für schwule Männer da, wenn sich ein Gefühl von Beklemmung einstellt – seit einigen Jahren steigen die Fälle von Hasskriminalität wieder an, die Angst vor Gewalttaten wächst, gerade auch jetzt in der Pride-Saison. Die Community kann auch hier helfen, Ängste mindern und ein stärkendes Wir-Gefühl schaffen. Wie wichtig dieses Miteinander ist, belegte erst vor wenigen Tagen die US-Studie „Kind Communities: Perspectives From LGBTQ+ Young People“. Zu den wichtigsten Ergebnissen gehört, dass nur 35 Prozent der LGBTI*-Menschen angaben, überhaupt noch in einer Gemeinschaft zu leben, in der die Mitmenschen freundlich zu ihnen sind. Sicherlich lassen sich solche Zahlen nicht eins zu eins für Deutschland übertragen, doch das Gefühl, dass das Klima rauer wird, kennen auch in der Bundesrepublik immer mehr Schwule. Rückzug ist da allerdings keine sinnvolle Alternative, auch dann nicht, wenn man verpartnert ist. Es braucht weitere soziale Kontakte, um gesund zu leben.

Die Szene ist vielfältig – vom Männerchor bis zum Sportverein, für jeden ist etwas dabei! © iStock / skynesher

Wie weit viele von uns davon inzwischen entfernt sind, belegte erst im Juni auch eine Studie aus Österreich – im ersten Gesundheitsreport speziell für Schwule, Lesben und queere Menschen zeigte sich, dass 39 Prozent unter Angststörungen und 34 Prozent unter einem Burn-out leiden. Jeder fünfte LGBTI*-Mensch hat eine Essstörung (19%). Isoliert treten all diese Krankheitsbilder nicht nur verstärkt auf, auch ihre Ausprägung selbst intensiviert sich bei vielen Betroffenen dadurch. Soziale Kontakte in der Szene können auch hier massiv entgegenwirken, auch und gerade in Bereichen wie dem Burn-out oder bei Essstörungen. Gerade der Faktor Minderheitenstress ist außerdem noch immer ein besonderes Problem in der Community, der oftmals jahrelang kleingeredet oder missachtet wird – solange, bis es nicht mehr geht. Stress lässt sich dabei innerhalb der Community auch jenseits von Bars und Clubs abbauen, beispielsweise bei schwulen Sportvereinen, Gay-Workshops oder Kulturverbänden wie unter anderem schwulen Gesangsvereinen. Zusammen etwas erleben mit Menschen, die gleichberechtigt sind und sich auch so fühlen, ist der Powerstoff gegen die klassischen Krankheitsbilder einer modernen Gesellschaft.

Generell gilt es, der Einsamkeit mit sozialem Tatendrang zu begegnen – das hilft übrigens auch bei unserer Potenz. In den meisten Fällen von erektiler Dysfunktionen spielt unser Gehirn eine zentrale Rolle, kurzum Versagensängste, Einsamkeit und Isolation können sich negativ auf unsere Libido auswirken. Sport mit Freunden, gemeinsame Aktivitäten und eine bessere allgemeine Gesundheit hingegen lassen unsere Manneskraft von neuem erstrahlen. Indirekt kann die Szene so durchaus eine positive Wirkung auf unsere Potenz haben, auch in höherem Alter. Zudem besteht sozusagen direkt vor Ort auch bestens die Möglichkeit, jene Potenz am lebenden Objekt weiter zu trainieren – oder sich zumindest von anderen Männern inspirieren zu lassen. Und sollten wir uns einen Korb einhandeln, hilft uns auch hier der Freundeskreis vor Ort – zu Hause müssen wir mit der Absage indes alleine klarkommen. Genau diese Menschen, die uns nahe sind, helfen uns außerdem dabei, uns selbst zu spiegeln, uns zu hinterfragen und gegebenenfalls unseren ungesunden Lebensstil zu überdenken und gegenzusteuern. Dazu kann auch das Thema Alkohol gehören; natürlich feiern schwule Männer auch in der Szene, doch der Konsum ist an Menge, Häufigkeit und Intensität ein anderer, als wenn wir zu Hause allein zur Flasche greifen – und das oftmals aus anderen Gründen. Nicht der gemeinsame Spaß steht im Mittelpunkt, sondern das Betäuben von Ängsten, Einsamkeit, Frust und Isolation. In der Szene bestenfalls stoppen einen auch die eigenen Freunde, wenn man genug hatte; zu Hause auf der Couch gibt es dieses Regularium leider nicht. Am Ende ist es vielleicht ganz einfach: Nicht nur die Szene braucht uns, wir brauchen die Szene und das nicht nur als Zeitvertreib, sondern für unser eigenes gesundes Wohlbefinden. Also, wann gehst du das nächste Mal raus?

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