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Next Generation HIV – 30 Jahre Therapie und jetzt? // © Archiv/Privat

Next Generation HIV Interview mit Facharzt Kevin Ummard-Berger

ms - 15.03.2022 - 13:38 Uhr

30 Jahre HIV-Therapie: Ein seltsam anmutendes Jubiläum, das zum einen eine ganz klare medizinische Erfolgsgeschichte aufzeigt, zum anderen bis heute immer noch ab und an mit den dunklen Schatten der Vergangenheit zu kämpfen hat. Aus der „tödlichen Schwulenseuche“ wurde eine chronische und zumindest in den westlichen Ländern gut behandelbare Krankheit inklusive einer langen Lebenserwartung.

Wie gehen wir heute mit dem Thema HIV in der Community um? Und gibt es Unterschiede zwischen der ersten Generation der HIV-Patienten und der heutigen jungen Generation Z? Klar ist, dass der Generationswechsel auf beiden Seiten stattgefunden hat, auch auf Seiten der Ärzte. Junge Ärzte treffen auf junge Patienten – wie wirkt sich das auf den Umgang mit HIV aus? Oder entstehen am Ende bei allem Fortschritt immer noch die alten Ängste und Denkmuster in unseren Köpfen?

Darüber haben wir gesprochen mit Kevin Ummard-Berger – er ist einer der Fachärzte der HIV-Schwerpunktpraxis UBN in Berlin.

 

Herr Ummard-Berger, gibt es Unterschiede in Ihrer Arbeit mit Menschen, die schon lange mit HIV leben und denen, die vergleichsweise neu infiziert sind?

Jeder geht mit der Erkrankung oder der Diagnose ganz anders um und genauso unterschiedlich ist meine Herangehensweise. Ich denke, man muss hier eher unterscheiden zwischen sozialen und medizinischen Aspekten. Soziale Aspekte betreffen Menschen, die schon lange HIV haben und natürlich eine ganz andere Erfahrung mit der Erkrankung durchgemacht haben. Diese Menschen haben auch eine ganz andere Medikation erlebt und sind ganz anders stigmatisiert und auch sozial isoliert worden.

Bei den jungen Leuten, die sich infiziert haben, ist dagegen die Therapie in der Regel sehr einfach – eine Pille am Tag und fertig. Und daher tun sich diese jungen Menschen natürlich zumeist auch einfacher im Umgang mit der Krankheit. Generell lässt sich das aber nie pauschalisieren, es ist daher immer eine individuelle Entscheidung, wie ich mit HIV-Patienten umgehe.

 

Wenn heute ein junger Mensch zu Ihnen kommt und die Diagnose HIV erhält: Wie unterscheidet sich diese Situation von jener, die Ärzte vor 20 oder 30 Jahren erlebt haben?

In der Regel war das damals in gewisser Weise ein Todesurteil für die Patienten – das ist wenigstens das, was ich von älteren Kollegen höre, ich selbst bin zu jung, um diese Erfahrungen als Arzt gemacht zu haben. Damals gehörte ganz viel Sozialarbeit und palliative Unterstützung mit dazu. Das fällt heute völlig weg, zumindest hier in Deutschland. Menschen im mittleren Alter, die grundsätzlich noch wissen, was in den 1980iger Jahren passiert ist, haben bei einer Diagnose heute immer noch Bedenken und Ängste. Aber wie gesagt, auch die Reaktionen sind individuell, pauschalisieren lässt sich das schlecht.

 

Haben Ihre jungen Patienten heute andere Ansprüche an die Therapie als Menschen, die schon sehr lange mit HIV leben?

Ansprüche würde ich es gar nicht nennen, aber den meisten Menschen ist bewusst, dass sich HIV heute supergut behandeln lassen kann, seit neustem ja auch mit den Injektionstherapien, in der man alle zwei Monate zwei Spritzen intramuskulär bekommt. Das hat sich in der Szene auch rumgesprochen und ist stellenweise auch sehr begehrt und wird angefragt. Der größte Wunsch ist aber nach wie vor die Therapie mit einer Tablette am Tag.

 

Gibt es denn einen Unterschied im Umgang mit der Diagnose zwischen heterosexuellen Patienten und Männern, die Sex mit anderen Männern haben (kurz MSM)?

Im Grunde ist das Verständnis für die Sache gleich, der Umgang kann aber tatsächlich unterschiedlich sein, weil sich MSM ja durch den Freundeskreis, die Szenearbeit oder durch den jahrelangen Umgang mit der Thematik bereits ganz anders damit auseinandergesetzt haben. Ein heterosexueller Mensch fällt bei der Diagnose zumeist aus allen Wolken, weil er damit nicht gerechnet hat.

 

Auch auf Behandlungs-Seite rücken jüngere Ärzte nach. Ändert sich damit auch die Betreuung der Patienten in den Praxen?

Da kann ich nur für mich sprechen. Ich bin kein Verfechter der „Halbgott-in-Weiß“-Haltung. Ich bin eher für eine partnerschaftliche Beziehung mit meinen Patienten, denn ich denke, dadurch schafft man sehr viel Vertrauen und nur damit bekommt man auch viele Informationen, um so dem Patienten bestmöglich helfen zu können. Jüngere Ärzte sind natürlich mit jüngeren Patienten auf einer ganz anderen Wellenlänge, das macht die Zusammenarbeit einfacher.

Ich sage aber all meinen Patienten, dass mein Sprechzimmer ihr Schutzraum ist, in dem sie mir alles erzählen dürfen und auch sollen, was für sie relevant ist. Diese Herangehensweise hat sich schon geändert, früher gab es noch mehr Vorbehalte, da wurde Sexualität öfters verteufelt oder man fragte den Patienten sogar direkt: Warum hast du dir schon wieder eine Syphilis eingefangen? Das ist aus heutiger Sicht natürlich völlig falsch. Jemand, der Sexualität lebt, hat ein Risiko und das muss ihm bewusst sein. Aber das soll ihn ja nicht davon abhalten, Sexualität zu leben.

 

Ärgert Sie es denn trotzdem, dass manche, oftmals eher jüngere Männer in der Community extrem leichtfertig mit der Situation umgehen – nach dem Motto: Ist mir doch egal, ob ich mich anstecke.

Ärgern ist das falsche Wort. Ich versuche immer, in den Gesprächen Wissen zu vermitteln und eine gewisse Aufmerksamkeit und Vorsicht bei den Menschen zu entwickeln. Ich möchte gerne, dass die Menschen reflektieren, was sie tun und wo ihre Risiken liegen. Ich versuche die Leute da abzuholen, wo sie sind – dann passiert es auch, dass zum Beispiel junge Menschen gezielt nachfragen und ein Interesse an der Thematik entwickeln. Die junge Generation ist gar nicht so weit weg von unserem Denken.

 

Vor 20 oder 30 Jahren war die Diagnose HIV oftmals noch ein Todesurteil. Trotzdem gibt es glücklicherweise auch noch heut lebende HIV-Positive, die sich damals angesteckt haben. Wie blicken diese Menschen heute auf die Gesamtsituation?

Ich bemerke da oft eine große Dankbarkeit, am Leben zu sein. Diese Menschen denken natürlich viel an ihre Freunde, die sie verloren haben. Oftmals sind sie dann der Einzige aus dem Freundeskreis, der noch lebt. Diese Patienten sind aber auch sehr dankbar für die Fürsorge, die sie in den letzten Jahrzehnten erlebt haben, gerade wenn sich Ärzte besonders um sie gekümmert haben. Oder auch darüber, dass sich die Medikamente weiterentwickelt haben – besonders im Rückblick auf die oftmals schwierigen Therapien, die diese Menschen in der Vergangenheit erleiden mussten.

 

Damals bedeutete die Diagnose oftmals für einen Menschen auch eine Stigmatisierung und eine Isolation von seinen Freunden oder der Familie. Wie sieht das heute aus?

Ich glaube, in den Köpfen passiert immer noch sehr viel Isolation, weil jeder Mensch, der die Diagnose bekommt, genau überlegt, wem er das erzählen kann und wem nicht. Und das kommt immer auf das eigene soziale Umfeld an. Auf der Arbeit ist es bis heute ein Problem, da will es eigentlich keiner sagen. Bezüglich der engen Familie machen sich die Leute in der Regel auch immer Sorgen. Das liegt natürlich an der langen Vorgeschichte dieser Infektionskrankheit, die so stigmatisiert und herabwürdigend behandelt wurde.

Manche denken auch bei einem Ausrutscher, dass sie jetzt sofort und für immer abgestempelt werden. Ich versuche immer, dem entgegenzuwirken und klarzumachen, dass HIV nicht mehr das ist, was es einmal war. Aber damals wie heute brauchen viele Menschen Zeit, um mit der Diagnose umzugehen.  

 

Würden Sie sagen, dass in der queeren Community heute ein breites Wissen über HIV und die Ansteckungswege besteht?

Ich glaube, das Wissen war schon einmal mehr, gerade in den späten 1990iger Jahren. Aber generell wissen die Menschen viel darüber und gerade seitdem man PrEP von der Krankenkasse bezahlt bekommt, beschäftigen sich auch viel mehr MSM wieder damit. Die PrEP hat noch einmal einen großen Teil dazu beigetragen, dass das Thema wieder präsenter ist.

 

Immer wieder wurden während der Corona-Pandemie Stimmen laut, die sich verärgert darüber zeigten, dass im Falle von Covid weltweit so schnell geforscht und an einer Impfung gearbeitet wurde, während scheinbar das Thema HIV gefühlt viele Jahre stiefmütterlich behandelt wurde. Können Sie diese Wut verstehen?

HIV und Covid sind natürlich zwei ganz verschiedene Paar Schuhe. Natürlich ist HIV auch eine weltweite Bedrohung, aber bei Covid ging es um eine rasche, globale Bedrohung, da mussten alle sofort agieren. Man muss auch klar sagen, der HIV-Bereich ist schon sehr privilegiert – wenn wir allein einmal über Deutschland reden. Wir haben hier knapp 90.000 Infizierte und dem gegenüber eine große Auswahl an Medikamenten und eine gute Forschung. Das Thema wir gar nicht so stiefmütterlich behandelt, wie manche vielleicht denken.

 

Die mRNA-Impfstoffe haben viel vorangebracht im Bereich Forschung und der Arbeit mit Viren - könnten diese Erkenntnisse auch den Durchbruch im Bereich HIV bedeuten?

Ich möchte mich da nicht direkt festlegen, weil ich viel zu wenig in der Forschung unterwegs bin, aber ich halte das für einen sehr guten Ansatz. Und das nicht nur in der HIV-Forschung, sondern vielleicht auch in ganz anderen Bereichen, beispielsweise in der Krebsforschung. Ich denke, da kann man ganz viel erreichen.

 

Für Aufsehen sorgte jüngst auch die sogenannte New Yorker Patientin, eine Frau, die erstmals von HIV geheilt wurde. Zuvor gab es schon einen ganz ähnlichen Fall in Berlin. In beiden Fällen waren die Patienten an Leukämie erkannt und die moderne Stammzellentransplantation heilte sozusagen als Nebeneffekt auch die HIV-Erkrankung. Ein Lichtblick für HIV-Patienten?

Die Menschen gehen bei so einer Stammzellentherapie durch die Hölle. Man schaltet das Immunsystem einmal komplett aus und die Gefahr, dass man während dieser Behandlung verstirbt, ist auch nicht gering. Das ist keine Routinemaßnahme. Das wird also wie im Falle der beiden erwähnten Patienten auf keinen Fall eine Standardtherapie werden. Aber dieser Ansatz, dass man einmal alle infizierten Zellen ausschaltet und neue gesunde Zellen hineingibt, klingt spannend. Bis daraus eine Behandlungsmöglichkeit werden könnte, ist aber noch ganz viel zu tun.

 

In den Niederlanden wurde jüngst eine neue Variante des HI-Virus vorgestellt, die wesentlich leichter übertragbar ist und das Immunsystem deutlich stärker angreift als bisherige Virusstämme. Glücklicherweise bietet die antivirale Therapie aber auch gegen diese Variante wirksam Schutz. Wie groß schätzen Sie die Gefahr ein, dass wir in den nächsten Jahren vielleicht mit weiteren, gefährlichen HI-Virus-Varianten rechnen müssen?

Ich mache mir keine großen Sorgen vor neuen HI-Virusvarianten. Wir wollen ja mit der Therapie erreichen, dass wir generell weniger Ansteckungen haben und infizierte Menschen besser schützen können. Und mit der PrEP sollen sich ja noch weniger Menschen anstecken. Und wenn wir das richtig machen und die Leute richtig aufklären und zudem möglichst alle Infizierten in eine adäquate Therapie bringen, dann sehe ich mit Bezug auf neue Virusvarianten keine großen Probleme.

 

Im Zusammenhang mit HIV: Was sind aus Ihrer Sicht bis heute die fatalsten Irrtümer außerhalb der queeren Community?

Ich erlebe tatsächlich ziemlich oft, dass noch immer viele denken, man könne HIV gar nicht gut behandeln und die Menschen müssten alle daran sterben. Auch gibt es da ab und an noch diese übertriebene Vorsicht im Umgang mit HIV-Positiven, gerade wenn man ins Ländliche fährt.

 

Covid beschäftigt uns auch nach gut zwei Jahren noch immer. Wie gehen HIV-Patienten inzwischen mit der Situation um?  

Ich habe in meiner Praxis keinen einzigen HIV-Patienten, der nicht gegen Covid-19 geimpft ist. Ich denke schon, dass bei HIV-Patienten das Bewusstsein für Risiken und Schutz der eigenen Gesundheit größer ist als bei vielen anderen Menschen auf dieser Welt. Als die erste Impfung auf dem Markt war, war der Wille von HIV-Patienten, sich schützen zu wollen, deutlich größer als bei vielen anderen.

 

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