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Gibt die Bundesregierung endlich Gas bei den LGBTI*-Rechten?
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Forderungen an die Ampel-Koalition! „Es gibt eine Gegenbewegung, die den Hass auf Schwule, Lesben und Transgender wieder schamlos öffentlich zelebriert.“

ms - 09.09.2022 - 15:00 Uhr

Anfang September endete die politische Sommerpause in der Bundesrepublik Deutschland und nach und nach haben die gewählten Vertreter des Landes wieder ihre Arbeit aufgenommen. Die nächsten Monate bis Ende 2022 dürften dabei gerade für die LGBTI*-Community von besonderer Brisanz sein, denn auf der To-Do-Liste stehen sowohl konkrete Ausformulierungen von Gesetzesvorhaben wie das neue Selbstbestimmungsgesetz, aber auch viele, noch immer offene Fragen beim Nationalen Aktionsplan. Zudem auf dem Tisch liegen die ersten Schritte zur Ausarbeitung einer möglichen Grundgesetzergänzung, um die sexuelle Identität als besonders schützenswerten Aspekt in den Artikel 3 einzuarbeiten, und dann soll auch noch das Abstammungsgesetz gerade für lesbische Mütter mit Kindern wesentlich vereinfacht werden. Ist das zu schaffen? Und was erwartet die Opposition von der Ampel-Koalition? SCHWULISSIMO fragte nach bei Kathrin Vogler, der queer-politischen Sprecherin der Linken. 

Die Sommerpause ist vorbei, es gibt viel zu tun: Selbstbestimmungsgesetz, Aktionsplan, Grundgesetz und Abstammungsgesetz. Welche Dinge sollte die Bundesregierung endlich in Angriff nehmen?

Ich würde der Bundesregierung empfehlen, die verschiedenen Vorhaben nach Dringlichkeit zu sortieren. Mich hat der gewalttätige Angriff auf lesbische Frauen beim CSD in Münster und der Tod von Malte C., der schwer verletzt wurde, als er sie verteidigen wollte, wirklich erschüttert. Vielleicht haben wir die Fortschritte in der Gesellschaft bei der Überwindung von Homo- und Transphobie doch überschätzt. Ich finde, dass ein nationaler Aktionsplan für geschlechtliche und sexuelle Vielfalt, wie er im Koalitionsvertrag der Ampel enthalten ist, jetzt nicht mehr auf die lange Bank geschoben werden darf. Er muss konkrete, messbare Ziele und eine ausreichende Finanzierung erhalten, damit er wirksam werden kann.  

Bisher ist Sven Lehmann, der Queer-Beauftragte der Bundesregierung, in vielen Punkten sehr vage geblieben, gerade auch beim Nationalen Aktionsplan, ein bisher einzigartiger Plan einer Bundesregierung. Welche konkreten Informationen wären aktuell noch wünschenswert?

Ich würde mir wünschen, dass die Bundesregierung dem Bundestag und der Öffentlichkeit gegenüber darlegt, wie sie sich vorstellt, insbesondere jene Zielgruppen zu erreichen, die von homo- und transfeindlicher Hetze positiv angesprochen werden.  Das ist nämlich die Achillesferse des gesamten Vorhabens: Wir haben tatsächlich in den letzten Jahrzehnten große Fortschritte in der Akzeptanz queerer Lebensweisen in der Breite der Gesellschaft erzielt, das sieht man etwa an den großen Teilnahmerzahlen bei den CSDs oder bei Umfragen zu queer-politischen Themen. Aber es gibt auch eine Gegenbewegung, die den Hass auf Schwule, Lesben und Transgender wieder schamlos öffentlich zelebriert und auch viel unverhohlen daherkommende Ablehnung. Ein nationaler Aktionsplan muss auf diese Entwicklungen reagieren und daher auch dort ansetzen, wo es besonders weh tut. Dafür wird übrigens auch deutlich mehr Geld notwendig sein als bisher im Haushaltsplan vorgesehen.

Beim Selbstbestimmungsgesetz hat Herr Lehmann im Interview mit SCHWULISSIMO beteuert, dass er auch den Stimmen von Lesben zuhört – einige sind bis heute allerdings verunsichert und haben Angst davor, dass Schutz- und Begegnungsräume für Frauen und Lesben obsolet werden. Eine Antwort ist Herr Lehmann hier bis heute schuldig geblieben. Bedarf es hier mehr Kommunikation?

Wir haben eine hoch polarisierte und politisch aufgeladene Situation. Vielleicht vorweg: die meisten lesbischen Frauen haben kein Problem mit der Forderung nach Selbstbestimmung von trans Personen. Und die meisten, die ein Selbstbestimmungsgesetz fordern, sind gerne bereit, über mögliche Probleme mit der Umsetzung zu diskutieren und dafür Lösungen zu entwickeln. Die Bereitschaft hört allerdings dort auf, wo einer Gruppe die Existenzberechtigung abgesprochen wird, wie es transfeindliche Kreise unter dem Vorwand des Feminismus mit allerlei abenteuerlichen Theorien betreiben. Trans-Personen existieren, sie sind keine Modeerscheinung und sie haben das Recht auf ein Leben in Selbstbestimmung und Würde. Darüber kann man nicht diskutieren. Umso wichtiger aber ist es, mit allen, die diese Grundlage akzeptieren, eine offene, seriöse Debatte zu führen. Diese zu initiieren, hat Sven Lehmann leider bisher versäumt. Nach meiner Erfahrung sind solche Diskussionen mit der Zivilgesellschaft im parlamentarischen Beratungsprozess nicht in der nötigen Breite und Tiefe zu führen, deswegen sollten sie vor der Erstellung eines Gesetzentwurfes stattfinden.

In puncto Selbstbestimmungsgesetz erleben wir gerade viel Kritik auch in anderen Ländern, oftmals seien rechtliche Schritte zu weit gegangen. In Großbritannien wurde gerade erklärt, dass die Tavistock Klinik für trans-Jugendliche aufgrund massiven Fehlverhaltens geschlossen wird. In Schweden wurden Pubertätsblocker wieder eingeschränkt, da es keine Langezeitstudien gibt und die Vergabe inzwischen als “Massenexperiment an Jugendlichen” eingestuft wird. Keiner will zurück zum alten TSG, aber vielleicht gäbe es ja genug Raum für eine neue Gesetzesausarbeitung, die die Probleme anderer Länder anerkennt und ernst nimmt?

Die Erfahrungen aus anderen Ländern auszuwerten und in den Gesetzgebungsprozess einfließen zu lassen, ist immer sinnvoll, es darf nur nicht dazu benutzt werden, den Gesetzgebungsprozess hinauszuzögern. Schon viel zu lange müssen die Betroffenen immer wieder Teile des TSG gerichtlich korrigieren lassen - ein mühsamer und schwieriger Weg, den nicht alle gehen können und wollen. Viele der in der Frage angesprochenen Themen sind überhaupt nicht Gegenstand eines Selbstbestimmungsgesetzes, bei dem es vor allem um das Verfahren zur Änderung des Geschlechtseintrags in den Personenstandsregistern geht. So werden wir etwa im Gesundheitsausschuss über die Finanzierung geschlechtsangleichender Therapien beraten müssen. Das wird auf jeden Fall anspruchsvoll, denn wenn Transgeschlechtlichkeit richtigerweise keine Krankheit mehr ist, dann braucht es eine andere Grundlage, um festzulegen, welche medizinischen Leistungen die Krankenversicherungen gewähren müssen. Dazu wird auch die Frage gehören, unter welchen Bedingungen geschlechtsangleichende Behandlungen, Pubertätsblocker etc. bei Minderjährigen zugelassen und auch finanziert werden. Wir haben ein völlig anderes System der Gesundheitsversorgung als etwa Großbritannien mit dem staatlichen NHS, der eine aus dem Ruder gelaufene Klinik einfach selbst schließen kann. Daher müssen wir unbedingt darauf achten, dass kein von Profitinteressen getriebener Angebotsmarkt entsteht, der sich selbst Nachfrage schaffen könnte. Außerdem brauchen wir ausreichend vorhandene, gut qualifizierte und niedrigschwellig erreichbare Beratungsmöglichkeiten für trans-Menschen jeden Alters und ihre Familien. Das ist nicht mit einem Gesetzgebungsverfahren zu regeln, dafür braucht es viele kleine Schritte an unterschiedlichen Stellen und einen langen Atem.

Wir reden derzeit auch über eine Grundgesetzänderung, sicherlich, ein gutes Unterfangen. Gleichzeitig haben aber immer mehr queere Menschen schlicht Angst davor, im kommenden Winter ihre Heizung oder ihren Lebensunterhalt nicht mehr zahlen zu können. Da wirken gewisse LGBTI*-Vorhaben derzeit ein wenig entrückt und scheinen mit der aktuellen Lebensrealität vieler queerer Menschen wenig zu tun zu haben, oder?

DIE LINKE hat sich gerade für den politischen Herbst aufgestellt. Wir fordern eine Deckelung der Energie- und Lebensmittelpreise, die Weiterführung des 9-Euro-Tickets und eine Ausgleichszahlung von 125 € plus je 50 € pro Person für Haushalte mit niedrigem und mittlerem Einkommen. Dafür mobilisieren wir gemeinsam mit Initiativen und Sozialverbänden, Gewerkschafter*innen und Klimaschützer*innen und natürlich auch mit queeren Aktivist*innen. Ich persönlich bin ja davon überzeugt, dass die Politik den Menschen die Angst davor nehmen muss, dass sie im Winter frieren, hungern und vielleicht sogar unangenehm riechen werden, weil sie sich kein warmes Wasser zum Waschen leisten können. Denn genau diese sozialen Ängste erleichtern den Rechten auch, Hass und Verachtung gegen Minderheiten zu schüren. Wenn die Bundesregierung es nicht schafft, den Bürger*innen diese Ängste zu nehmen, indem sie sie ganz konkret beim Essen, Heizen und bei der Mobilität entlastet, dann werden die dringend nötigen, seit Jahren überfälligen, queer-politischen Vorhaben in der Bevölkerung deutlich schwerer vermittelbar sein. Die zynischen Kommentare in den asozialen Netzwerken dazu kann ich mir schon lebhaft vorstellen. Wie Bertolt Brecht sagte: Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral!“

Welche Aspekte mit Bezug auf LGBTI*-Menschen müssten jetzt in diesem Jahr noch angegangen werden und sind dabei vielleicht noch gar nicht oder nicht ausreichend auf der politischen Agenda?

Ich hoffe immer noch auf ein Schredder-Moratorium der TSG-Akten, damit die individuelle und gesellschaftliche Aufarbeitung nicht später einmal an fehlenden Dokumenten scheitert. Ich hoffe, dass die Innenministerkonferenz sich dazu entsprechend verständigen wird. Und dann würde ich mir einen Forschungsauftrag zur ökonomischen und gesundheitlichen Situation von trans-Personen in Deutschland wünschen. Wie sieht es konkret aus mit ihrer Teilhabe am Arbeitsmarkt? Welche Einkommens- und Wohnsituation haben sie und wie unterscheidet sich das eventuell von der Durchschnittsbevölkerung? Wie gut ist die gesundheitliche Versorgung? Das wäre eine wirklich sinnvolle Grundlage für weitere politische Vorhaben zur Gleichstellung und Antidiskriminierung.

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