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Ukraine: LGBTI*s haben Angst vor Genozid // © IMAGO / ZUMA Wire

Ukraine: LGBTI*s in Angst vor Genozid „Wenn sie das ´normalen´ Zivilisten antun, was machen sie dann erst mit queeren Menschen, die sie hassen?“

ms - 04.04.2022 - 16:45 Uhr

Zu Beginn des Krieges in der Ukraine machten Informationen die Runde, dass russische Soldaten bei ihrem Einmarsch in die Ukraine auch gezielt Jagd auf LGBTI*-Menschen machen würde. Laut US-Geheimdienstinformationen soll es Todeslisten geben, auf denen sich viele LGBTI*-Aktivisten befinden. Konkret bewiesen werden konnten diese mutmaßlichen Informationen bis heute nicht, zudem bezweifelten auch queere Menschen vor Ort, dass russische Soldaten im Ernstfall soweit gehen würden – in den letzten Wochen hatten sich die russischen Soldaten oftmals als planlos und schlecht organisiert gezeigt.

Seit dem vergangenen Wochenende hat sich die Situation radikal verändert – die Gräueltaten von Butscha wenige Kilometer nordwestlich von Kiew sorgten für weltweites Entsetzen. Mehr als 400 Zivilisten wurden auf grausame Weise gefoltert, ermordet und auf der Straße, in Gräben und Löchern zurückgelassen. Präsident Selenskyj spricht von einem Genozid, während die Sprecherin des russischen Außenministeriums, Maria Sacharowa, entgegnete, dass die toten Zivilisten "angeordnet" worden seien, um Russland an den Pranger zu stellen und um die Friedensverhandlungen zu stören.

Klar ist indes bereits, dass die Brutalität der Taten auch innerhalb der LGBTI*-Community für eine Erschütterung gesorgt hat. Bisher zeigten sich die queeren Ukrainer sehr kampfesbereit und selbst jene, die geflüchtet waren, wollten nach Eigenaussage nach Ende des Krieges wieder in die Ukraine zurückkehren. Nun scheint sich die Angst immer mehr auszubreiten, dass zum einen die erwähnten „Todeslisten“ tatsächlich wahr sein könnten und zum anderen russische Soldaten diese Befehle zum Genozid an queeren Menschen auch tatsächlich umsetzen könnten. Kurz bevor die Gräueltaten publik wurden, interviewte die Welt-Zeitung unter anderem Anton Levdyk, den schwulen Projektmanager der LGBTI*-Organisation Fulcrum UA – Levdyk schätzt die Lage für LGBTI*-Menschen in der Ukraine mit Blick auf die russischen Invasoren als besonders bedrohlich ein: „Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie uns finden. Sie sind sehr homophob, sie werden uns töten, sie werden nicht verhandeln!“

Diese Einschätzung teilt auch Viktor Pylypenko - der Soldat wurde 2018 landesweit bekannt, als er sich als erster homosexueller Soldat in der Ukraine outete. Auch jetzt kämpft Pylypenko an der Front und sagte: „In Russland herrscht ein hoher Grad an institutionalisierter Homophobie. Seit 2014 erbauen wir ein freiheitsliebendes Land, das Menschenrechte wertschätzt. Das russische Regime will unsere Verfassung verbrennen und uns zu Sklaven machen.“

Doch der Kampfesmut hat seit Butscha Risse bekommen. Die lesbische Kinderbuchautorin Marie Miro lebt in Deutschland und hat einige queere Freunde in der Ukraine, mit denen sie in Kontakt steht: „Seit dem Wochenende haben einige erst so richtig begriffen, wie gefährlich dieser Krieg wirklich ist. Es ist das eine, Bomben zu hören und verwüstete Häuser zu sehen, das andere dagegen, gefolterte Leichen mitten auf der Straße zu erblicken. In meinem Freundeskreis vor Ort in der Ukraine geht immer mehr die Angst um und die Frage: Wenn sie das ´normalen´ Zivilisten antun, was machen sie dann erst mit queeren Menschen, die sie hassen?“

Diesen „neuen“ Blick auf den Krieg vor Ort bemerkte auch die polnische Zeitung  Gazeta Wyborcza – sie schrieb zu den Bildern getöteter Zivilisten in der Ukraine: "Massenweise ermordete Zivilisten, vergewaltigte Frauen, zerstörte Städte und Dörfer, allgegenwärtige Plünderungen - das Bild, das sich nach dem Abzug russischer Einheiten von der Ukraine bietet, schnürt einem die Kehle zu. In den vergangenen Jahrzehnten haben wir uns an den Gedanken gewöhnt, dass in der zivilisierten Welt sogar der Krieg gewisse Regeln einhält. Aber die Horden des Kremls, die nun die Ukraine verwüsten, beweisen gerade, dass in Europa Dinge passieren, die wir nur aus Geschichtsbüchern kennen. Das jetzige Verhalten der russischen Besetzer erinnert an das Verhalten der sowjetischen Armee im zerstörten Deutschland am Ende des Zweiten Weltkriegs. Damals jedoch drang die Rote Armee in das Gebiet des Todfeinds ein, der vorher über Russland hergefallen war. Und hier sollten doch Putins Soldaten angeblich den ukrainischen Brüdern helfen und sie von 'Faschismus' befreien.“

Emil Edenborg, Professor für Gender Studies an der Stockholm Universität, sieht die Lage ähnlich dramatisch. Sie schreibt über die Lage der LGBTI*-Community in der Ukraine im US-Magazin Boston Review: „Tatsache ist, dass der Kreml eine bösartige, homophobe Ideologie als Geopolitik konstruiert hat, und in der offiziellen russischen Rhetorik wird der Krieg in der Ukraine als dessen Fortführung dargestellt.“ 

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