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Eine Jugend am Abgrund?

Eine Jugend am Abgrund? Warum geht es so vielen LGBTI*-Jugendlichen so schlecht? Was können wir in der Community besser machen?

ms - 31.08.2022 - 17:00 Uhr

Der Sommer neigt sich dem Ende zu, die dunkle Jahreszeit steht vor der Tür und die neusten Statistiken verheißen nichts Gutes, gerade für junge LGBTI*-Menschen. Erneut sind die negativen Fallzahlen angestiegen, die häufigste Ursache für stationäre Krankenhausbehandlungen von Menschen zwischen 15 und 24 Jahren sind inzwischen psychische Probleme. Rund 22 Prozent aller jungen Deutschen dieser Generation Z definieren sich dabei als LGBTI*. Nach wie vor ist auch das Suizidrisiko von queeren jungen Menschen vier- bis siebenmal höher, als das von Jugendlichen im Allgemeinen. Die letzten zweieinhalb Jahre Corona-Pandemie haben dabei wie im Fokus eines Brennglases die Situation gerade für junge Queers noch einmal negativ verstärkt – depressive Verstimmungen stiegen um rund 67 Prozent an, ebenso wie selbstverletzendes Verhalten. Wie sich die Lage im Herbst entwickeln wird, hängt maßgeblich auch von den weiteren Entwicklungen ab: LGBTI*-Hassverbrechen, Ukraine-Krieg, Corona-Pandemie, Affenpocken.

Doch woher kommen die Probleme genau?

Nebst den noch immer klassischen Ängsten beim Coming Out vor Eltern und Freunden und dem geistigen Brandbeschleuniger Pandemie müssen weitere Aspekte eine Rolle spielen. Das 12-köpfige Team des Vereins COMING OUT DAY berät tagtäglich Jugendliche via E-Mail und eigenem App-Messenger. SCHWULISSIMO sprach mit Vereinsvorstand Sven Norenkemper über die aktuelle Situation.

Sven, warum nehmen scheinbar die Fälle von psychischen Problemen unter LGBTI*-Jugendlichen immer mehr zu?

Zunächst müssen wir festhalten, dass die Belastungssituation schon sehr lange sehr hoch ist, das belegen auch viele Studien der letzten Jahre. Durch Aspekte wie Social Media oder durch den Fakt, dass Depressionen und psychische Gesundheit immer mehr enttabuisiert werden und dabei immer stärker in das Bewusstsein der Gesellschaft gelangen, fallen auch immer mehr die Hürden, darüber zu sprechen, und die Fallzahlen steigen allein schon aufgrund dessen an. Blicken wir jetzt auf die allgemeine LGBTI*-Community, sehen wir hier auch fundiert belegt eine zwei- bis dreifach höhere depressive Inzidenz als in der Allgemeinbevölkerung. Ähnlich sieht die Lage generell unter Jugendlichen aus, auch hier verzeichnen wir Zuwächse von bis zu 50 Prozent. Und dann erleben wir noch unter Jugendlichen, dass nach zweieinhalb Jahren Pandemie viele einen enormen Druck verspüren, all das, was sie in der Schule verpasst haben, jetzt nachholen zu müssen, um nicht sozial abgehängt zu werden. Von Entspannung konnte also auch im Sommer nicht die Rede sein. Queere Jugendliche sind dabei sozusagen im Zentrum all dieser Schnittmengen und deswegen in besonderer Weise davon betroffen. Noch dazu beschäftigen sie sich ja oftmals auch über Jahre vor ihrem eigentlichen Coming Out genau damit – auch dadurch steigt noch einmal der psychische Druck aufm Kessel. Ein weiterer Punkt ist eine gewisse Spaltung in der Gesamtgesellschaft: Auf der einen Seite erleben wir eine große Liberalisierung gegenüber queeren Menschen, auf der anderen Seite ist aber auch durch diese Offenheit ein Rollback zu beobachten inklusive einer radikaleren Form von Ablehnung bis hin zu Hass.

In Debatten wird es sehr schnell sehr scharf und dann wird sehr schnell auch nicht mehr die Meinung kritisiert, sondern der andere Mensch.

Und die Stammtischparolen von damals, finden sich heute im Alltag wieder.

Ja! Die Stammtische von früher, sind die Social Media Kanäle von heute. Auch wenn statistisch gesehen diese radikalen Kräfte in der absoluten Minderheit sind, scheinen sie durch das Netz aber wahnsinnig viel und laut zu sein. Und es gibt durchaus Menschen, die dann dadurch angefeuert auch das Ausleben von physischer Gewalt gerechtfertigt sehen. Aus verbaler Hetze wird irgendwann auch realer Hass und Gewalt.

Ist Social Media für junge LGBTI*-Menschen aus deiner Sicht dann eher Heilsbringer oder Höllenschlund?

Es ist leider beides! Es gibt viele positive Entwicklungen, wenn wir beispielsweise an China oder Russland denken, dann ist Social Media oftmals die einzige Möglichkeit, sich mit anderen queeren Menschen auszutauschen. Gleichzeitig bietet dies aber auch Raum für Propaganda und Populismus. Bei LGBTI*-Jugendlichen hängt es auch sehr stark davon ab, in welcher Bubble sie sich selbst befinden; wenn sie zum Beispiel in einer konservativen digitalen Ecke großgeworden sind, dann werden sie eher darin bestärkt, dass sie die Einzigen auf der Welt sind und es falsch ist, so zu sein, wie sie sind. Andere Jugendliche bekommen dagegen den Eindruck in ihrer digitalen Bubble, dass die ganze Welt offen und queer ist und outen sich dann vielleicht zu naiv oder zu unvorsichtig.

Sven Norenkemper sagt, dass die Belastungssituation schon sehr lange sehr hoch ist, das belegen viele Studien der letzten Jahre. © Danny Frede

Wie können queere Jugendliche denn grundsätzlich hier etwas Druck rausnehmen?

Das klingt viel leichter gesagt als getan, aber Jugendliche müssen erst einmal verstehen, dass die digitale Welt nicht das reale Leben ist. Es ist auch nicht schlimm, auf gewisse Kommentare nicht zu reagieren oder sie erst gar nicht selbst zu lesen. Zudem zeigt sich, dass die Häufigkeit des Social Media Konsums eine entscheidende Größe ist. Auch die Frage, muss ich jeden Kampf kämpfen, ist eine wichtige. Ist es mir das gerade wirklich wert und habe ich wirklich die Energie dafür? Ein zentraler Aspekt bei unserer Beratung ist die sogenannte Ressourcenorientierung, sich also auch immer selbst fragen: Was habe ich auf meiner Habenseite? Was tut mir gut und was kann ich mehr machen, damit es mir besser geht? Welche Menschen tun mir gut? Brauche ich vielleicht neue reale Kontakte, zum Beispiel gleichaltrige Queers, abseits der digitalen Welt?     

Das klingt auch danach, dass es gerade an Schulen dringend einen Kurs für den Umgang mit modernen Medien bräuchte, oder?

Das bräuchte es definitiv an Schulen, aber auch uns Älteren hat nie jemand zur Seite genommen und uns die ganzen Medien erklärt. Wir haben den Vorteil, dass wir da mit einer gewissen Lebenserfahrung und Abgeklärtheit herangehen und wissen, nichts wird so heiß gegessen, wie es gekocht wird. Für Jugendliche ist das dagegen ganz unmittelbar und schon immer so, sie sind in einer digitalen Welt aufgewachsen. Als Beispiel: Erst neulich ging es in einer Diskussion mit einem schwulen jungen Mann darum, ob er die Instagram-Seite einer Künstlerin in seinem Profil verlinken kann – agiert diese gerade politisch korrekt oder besteht die Gefahr, bei einer unbedachten Verlinkung selbst einen Shitstorm abzubekommen? Das ist nur ein Beispiel, das aber zeigt, dass Jugendliche gerade was Meinungsäußerungen betrifft, inzwischen super vorsichtig sind und oftmals lieber eigene Meinungen nicht sagen, aus Angst, etwas verkehrt zu machen. Viele Jugendliche versuchen stromlinienförmig zu agieren, um gefahrlos durch die Welt zu kommen. Das ist natürlich durchaus auch gefährlich, denn an manchen Stellen beispielsweise bei rechter Hetze muss oder sollte Stellung bezogen werden. Viele Jugendliche bekommen einfach mit, sobald sie Haltung zeigen, egal zu welchem Thema, bekommen sie immer eins auf den Deckel und erleben Gegenwind. Und auch das ist abermals eines der Punkte, wodurch der psychische Druck immer weiter ansteigt.

Erleben junge LGBTI*-Menschen das auch in der Community selbst?

Wir erleben da zweierlei: Das eine ist dieses angepasste und manchmal nicht kritische Hinterfragen, wenn es um Punkte aus der Community geht. Oftmals gibt es zu verschiedenen Themen wenige Gegenstimmen, die vielleicht eine konservativere oder eben andere Meinung einnehmen. Das andere ist allerdings, dass Jugendliche erleben, dass auch einzelne Aktivisten durch ihre digitale Arbeit sehr viel bewirken können. Dieses Bewusstsein, nach außen zu gehen und sichtbar sein zu können, selbst mit der Gefahr, einen Shitstorm abzubekommen, schafft eine sehr starke Motivation, um sich für LGBTI* einzusetzen.

Jugendliche müssen erst einmal verstehen, dass die digitale Welt nicht das reale Leben ist, so Norenkemper.

Aber wenn ich dich richtig verstehe, ist eine gewisse politische Wegrichtung durchaus auch gewünscht, oder?

Es gibt durchaus in der queeren Jugendarbeit politische Tendenzen und aus der Tradition heraus ist diese wohl ein klein wenig links der Mitte – das ist grundsätzlich auch sehr gut nachvollziehbar. Dementsprechend finden sich die Jugendlichen, die ein konservativeres Weltbild oder zu gewissen Themen andere Haltungen haben, unter ihresgleichen in der Minderheit. Ich glaube, dass da die queere Community schon auch ein Abbild der Gesamtgesellschaft ist und das häufig in Debatten es sehr schnell sehr scharf wird und dann sehr schnell auch nicht mehr die Meinung kritisiert wird, sondern der andere Mensch. Das fördert so eine gewisse unreflektierte Einheitsmeinung, wo kaum mehr die Möglichkeit besteht, Dinge auch kontrovers zu diskutieren. Wie in der Gesamtgesellschaft läuft das auch so in der queeren Community und in weiten Teilen gibt es dann Punkte, die einfach nicht mehr hinterfragt werden. Das hat sicherlich auch etwas damit zu tun, dass queere Menschen sehr feine Antennen haben und sehr viele Verletzungen erleben mussten. Wenn sich dann eine Person etwas flapsig, naiv oder unreflektiert ausdrückt, dann sehen wir häufig als Gegenreaktion: “Du hast mich ganz schwer diskriminiert, deswegen höre ich jetzt mit der Diskussion auf.“ So kommen wir aber gesellschaftlich nicht weiter, jeder zieht sich in sein Eckchen zurück und es findet kein konstruktiver Dialog mehr statt. Abseits von tatsächlich indiskutablen Äußerungen vom politisch extremen Rand, erleben wir in der queeren Community häufig, dass die Parameter, die als angeblich menschenfeindlich oder diskriminierend erlebt werden, ein klein wenig aus dem Lot geraten sind.

ZUR PERSON
Sven Norenkemper

Sven Norenkemper wurde 1973 in Köln geboren. Vor und während seines Studiums der Sozialwissenschaften gründete er in den 1990er Jahren mit “anyway“ Europas erstes Jugendzentrum für LGBTI* mit, in welchem er bis 2007 leitend arbeitete. Danach gründete er sein eigenes Unternehmen im Bereich Organisationsentwicklung, Coaching und Supervision und berät in diesem bis heute Unternehmen, NGOs und Führungskräfte. Gemeinsam mit anderen engagierten Menschen gründete er vor knapp 20 Jahren auch den COMING OUT DAY e.V., welcher bundesweit queere Jugendprojekte unterstützt und selber durchführt. Seit April betreibt er das Projekt comingoutundso.de, den deutschlandweit ersten Beratungs-Messenger für junge LGBTI*.

Ein zentrales Anliegen des geplanten Nationalen Aktionsplans ist es, die Lebensrealität von LGBTI*-Jugendlichen zu verbessern. Schwerpunkte sollen der Kampf gegen die Hasskriminalität und mehr Vielfalt und Bildung an Schulen sein. Was ist aus deiner Sicht noch wichtig?

Wir erleben in unserer täglichen Arbeit, dass es wichtig wäre, die unterschiedlichen Identitäten innerhalb wie außerhalb der Community speziell und nachhaltiger anzusprechen – gerade auch bei Lehrplänen beispielsweise. Und wir wünschen uns, dass zudem auch die Gruppen innerhalb der Community nicht gegenseitig ausgespielt werden, also nach dem Motto: Um Schwule, Lesben und Bisexuelle kümmern wir uns schon ganz lange und den geht es ja gar nicht so schlecht, anderen geht es viel schlechter. Bitte kein Diskriminierungs-Quartett. Alle Gruppen innerhalb unserer Community verdienen es, gleichwertig akzeptiert und unterstützt zu werden.

Als schwuler Mann jenseits der 40 denkt man sich ab und an, es ändert sich nicht viel: Hass und Hetze sind noch immer da, die “schwule Sau“ noch immer präsent auf unseren Schulhöfen. Bleibt am Ende alles beim Alten?

Der Hass und das fast schon archaische Steinzeitdenken scheinen in vielen Menschen angelegt zu sein. Es gibt da also sicherlich Tendenzen, dass sich Geschichte wiederholt, und zudem auch den Versuch, den Hass immer wieder voranzutreiben, aber es gelingt diesen Kräften glücklicherweise im Moment in Deutschland nicht so leicht, das Rad der Geschichte wieder ganz zurückzurollen. Wir dürfen aber nicht leichtfertig denken, dass alles automatisch immer besser wird – wir sehen gerade in den USA, wie extrem diese Entwicklung ins Gegenteil umschlagen kann.

Sven, danke dir fürs Gespräch!

Beratung, Hilfe und weitere Informationen unter coming-out-day.de

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