Krieg und eine neue Welt - Ein Kommentar Hoffnungen und Gefahren für queere Menschen
Kommentar
Jubiläum – ein Grund zum Feiern. Oder? Wir feiern auf den Punkt genau zwei Jahre Corona! Heute vor zwei Jahren trat der erste Lockdown in Deutschland in Kraft. Und ein zweites Jubiläum steht an: Ein paar Stunden später können wir dann endlich auch einen Monat Krieg feiern. Sind Jubiläen nicht etwas Schönes? Bitte, was meint ihr? Ob das nicht alles etwas arg zynisch ist? Mit Sicherheit, natürlich, aber vielleicht eröffnet uns das die Chance, sich der gegenwärtigen Lage wieder bewusster zu werden, denn einmal mehr schleicht sich jene Form von Alltag in unser Leben, die Massenmord, Menschenverfolgung oder Pandemie als Normalzustand definieren will.
Natürlich, es liegt in der menschlichen Natur, auf gefährliche Geschehnisse meist nur kurzfristig zu reagieren und so ist es mit Sicherheit ein Stück weit auch eine reine Schutzfunktion unseres Körpers, dass wir die tagtägliche Ausnahmesituation gedanklich ein Stück weit von uns wegschieben. Trotz Krieg und Bomben müssen wir unseren Alltag meistern, arbeiten, essen, einkaufen – leben. Wer will es uns verdenken? Wir können uns wahrscheinlich gar nicht andauernd mit den dramatischen Situationen beschäftigen, die tagtäglich ganz nah bei uns mitten in Europa aber eben auch anderenorts geschehen.
Zu viel Leid, zu viel Hoffnungslosigkeit motiviert nicht, es lähmt. Neuste umfassende Studien belegen, dass gerade junge Menschen weltweit immer pessimistischer in die Zukunft blicken – beinahe jeder zweite junge Mensch leidet bereits unter einer psychischen Erkrankung (Mental State of the World Report 2021). Also doch zurück zum Alltag?
Leben mit der Krise? Darin haben wir in den letzten zwei Jahren dank der Pandemie ja bereits Übung, oder? Ältere Homosexuelle kennen das noch aus den ersten Jahren der HIV-Krise, als die Nachricht über den Tod eines Freundes ähnlich alltäglich wie der Wetterbericht geworden war. Der Gewöhnungseffekt sorgt für einen neuen Blick auf das eigene Leben und die Welt. Es gilt, weiter zu leben, zu überleben. Natürlich, viele von uns helfen, organisieren sich, spenden oder nehmen sogar queere Flüchtlinge auf.
Doch oftmals schleicht sich trotzdem nach einer gewissen Zeit diese Routine ein: Man steht morgens auf, überprüft mit einem kurzen Blick ins Smartphone, ob noch Krieg oder schon Weltkrieg ist, und geht dann zum alltäglichen Leben über. Badezimmer, Job, Essen, Schlafen.
Das ist alles menschlich. Und wir wissen, dass Empörungswellen vor allem eines sind – Wellen. Sie ebben ab, sie werden kleiner. Was das alles so konkret mit uns queeren Menschen zu tun hat? Eine ganze Menge, weil es gerade uns eines in aller Härte klarmachen sollte: Nichts ist selbstverständlich. Ich rede dabei gar nicht von der extremen Befürchtung, dass auch in Deutschland über Nacht wieder Krieg sein könnte, sondern von der schleichenden Entwicklung, dass auch gröbste Menschenrechtsverletzungen von Staatenlenkern nach einer kurzen Phase der Empörung zumeist immer mehr „Alltag“ werden. Das ist halt dann eben so, oder?
Wir erleben das gerade in Polen und Ungarn, wo immer wieder Gesetzentwürfe die Runde machen, die queeres Leben gänzlich verbieten sollen. Es zeigt sich in diesen Tagen in Russland, wo LGBTI*-Menschen zu den neuen Sündenböcken werden, die allein Schuld am ausbleibenden Endsieg haben sollen.
Die russische Moral, zersetzt von den Perversen, sozusagen. Wir sehen es gerade tagtäglich in den USA oder Australien, wo LGBTI*-Jugendliche an Schulen beinahe ausradiert werden sollen, ein Sprechverbot queeren Menschen den Mund verbieten soll oder trans-Jugendliche und ihre Eltern mit Haftstrafen auf Lebenszeit bedroht werden. All das nur ein kleiner Abriss aktueller Ereignisse und dabei haben wir noch gar nicht in die rund 70 Länder geblickt, die LGBTI*-Menschen bis heute verfolgen oder rechtlich kriminalisieren.
Alltag. Ist eben so. Ist eben wie mit der Klimakrise, kann man nichts machen, oder? Natürlich können wir viel tun, selbst wenn wir nicht vor Ort sind, selbst wenn wir nicht an vorderster Front kämpfen. Wir können wachsam bleiben. Hinschauen, auch wenn es wehtut. Hinschauen und nicht vergessen. Und es niemals, niemals, niemals Alltag nennen, wenn Menschen und Minderheiten drangsaliert, bekämpft, verfolgt oder getötet werden.
Es sollte zumindest unser ureigener Überlebensinstinkt sein, der uns in die Hand versprechen lässt: Wir schauen nicht weg. Wir bleiben wachsam. Und wir werden laut – im Kleinen wie im Großen, je nach Möglichkeit.