Direkt zum Inhalt
LGBTI*-Gruppen fliehen aus Russland // © Martinns

LGBTI*-Gruppen fliehen aus Russland „Russland erlebt ein neues Zeitalter: dunkel und arm. Der russische Staat sucht nach den Schuldigen - und diese Feinde sind jetzt LGBTI*-Menschen und Aktivisten.“

ms - 22.03.2022 - 12:30 Uhr

Die Situation für LGBTI*-Menschen in Russland hat sich seit Beginn des Krieges in der Ukraine massiv verschlechtert. Hintergrund ist der Frust und die Wut des russischen Präsidenten darüber, dass sich die Ukraine nicht so einfach erobern lässt wie wohl gedacht. Um jetzt trotzdem das Gesicht zu wahren, scheint Putin die Sündenböcke bereits gefunden zu haben – die russische LGBTI*-Community.

Aleksandr Voronov, der Geschäftsführer der russischen LGBTI*-Organisation Coming Out aus St. Petersburg, bestätigte in einem Interview mit Pink News diese dramatischen Entwicklungen, die die Gesamtsituation für queere Menschen in Russland noch weiter verschlimmern dürfte. Seit die Invasion der Ukraine immer mehr ins Stocken geraten ist, nehmen die Polizeirazzien in privaten Wohnungen und bei Treffpunkten von Queers, illegale Festnahmen und weitere Zensurmaßnahmen gegenüber der queeren Community von Stunde zu Stunde mehr zu, so Voronov. Auch die Büros der Coming Out Organisation und anderer Menschenrechtsgruppen werden anscheinend systematisch angegriffen.

"Der russische Staat hat den Krieg bereits verloren: Die ganze Welt sieht, dass die russische Armee dem kleinen Land, von dem die russischen Behörden sagten, es sei so schwach, nichts anhaben kann. Die Frage ist nicht, ob wir gewinnen oder verlieren. Die Frage ist, wo die Behörden einen Grund für die Niederlage finden werden: bei Menschenrechtsaktivisten, 'ausländischen Agenten', Verrätern der 'traditionellen Werte' und allen, die gegen den Krieg waren. Die Verantwortung für den Verlust wird man uns zuschieben."

 

Mehrere LGBTI*-Aktivisten wurden laut Voronov bereits grundlos verhaftet oder direkt verschleppt. Um seine eigene Kollegen zu schützen, hat der russische LGBTI*-Aktivist den Stützpunkt seiner Organisation ins Ausland verlegt – auch die Mitarbeiter verlassen das Land, um nicht ebenso spurlos zu verschwinden oder verhaftet zu werden.

"Von Russland aus weiter zu arbeiten, wäre der Weg ins Gefängnis!“, so Voronov weiter. Eine derartige Hetzjagd gegenüber queere und insbesondere schwule Menschen hat der russische Aktivist noch nicht erlebt, auch nicht, als Putin das sogenannte „Anti-Homosexuellen-Gesetz“ verankerte, das die bloße Erwähnung von "nicht-traditionellen sexuellen Beziehungen" verbietet. Jetzt sind LGBTI*-Gruppen zum neuen Staatsfeind Nummer Eins geworden.

Ein großes Problem ist laut Voronov dabei auch die schlichte Tatsache, dass die meisten Russen zum einen sehr wenig Informationen über das tatsächliche Kriegsgeschehen bekommen und zum anderen immer ärmer werden, sodass für viele andere Dinge wie die banale Frage, ob und was man heute essen könnte, eine höhere Priorität haben. Auch diese Situation hat sich durch die Blockade der sozialen Medien wie Facebook und Instagram sowie auch der klassischen unabhängigen Medienanbieter noch weiter verstärkt – nach wie vor ist auch der Begriff „Krieg“ nicht erlaubt.

"Es ist ziemlich einfach, Menschen in Not zu kontrollieren, die keinen Zugang zu unabhängigen Medien haben und nur das sehen, was die Propaganda sie sehen lassen will. Ich habe zudem erlebt, wie die Polizei nicht nur jene Menschen verhaftet haben, die tapfer Plakate auf Mahnwachen gegen den Krieg hochhielten, sondern auch Bürger, die einfach nur ein weißes Stück Papier in der Hand hielten. Die meisten Russen verstehen nicht, was für eine Katastrophe sich hier abspielt. Sie können es sich nicht leisten, über all diese politischen Dinge nachzudenken - sie kümmern sich darum, was sie heute zu essen haben, wie sie ihre Miete bezahlen können und so weiter. Das ist es, was unser Staat in den letzten 20 Jahren aus uns gemacht hat."

Nun mag die „Flucht aus Russland“ der nächste und logische Schritt sein, doch ganz so einfach ist auch das nicht – oftmals fehlt schlicht das Geld, um überhaupt seine Stadt oder die Region verlassen zu können. Gerade queere Menschen fürchten sich zudem auch davor, für das Militär zwangsverpflichtet zu werden. Untersuchungen der Organisation Coming Out haben überdies ergeben, dass LGBTI*-Menschen aus Russland leichter zu unterdrücken sind und generell mit mehr Gewalt konfrontiert sind. Zudem verdienen queere Russen weniger und leiden oftmals unter psychischen und medizinischen Problemen.

"Jetzt kommt Russland in ein neues Zeitalter: dunkel und arm. Es sieht nicht so aus, als ob das Leben von LGBTI*-Personen in diesem neuen Zeitalter einfacher sein wird. Der russische Staat sucht indes ständig weiter nach Feinden und Schuldigen, und diese Feinde sind jetzt Menschenrechtsverteidiger sowie LGBTI*-Menschen und –Aktivisten.“

Auch Interessant

Mehr Diversity! Oder nicht?

Zu viel oder zu wenig Diversität?

Diversity liegt im Trend, im Mai wird Diversity einmal mehr groß gefeiert. Doch haben wir inzwischen zuviel oder zuwenig davon?
Scham vor der PrEP

Slutshaming in der Gay-Community

PrEP-Nutzer sind sexgeile Schlampen! Wirklich? Woher kommt dieses Denken? In Großbritannien regt sich jetzt Widerstand gegen das schwule Slutshaming.
Nächste Todeszone in Afrika

Burkina Faso plant Hass-Gesetz

Das nächste afrikanische Land will Homosexualität unter Strafe stellen: Burkina Faso prüft gerade neue Verbote.
Erhöhte Gefahrenlage vor ESC

Reisewarnung zum ESC in Schweden

Im schwedischen Malmö herrscht erhöhte Gefahrenlage vor dem ESC. Der Sicherheitsrat Israels warnt vor einem Anschlag, die Polizei ist stark präsent.
Polens neue Wege

Umdenken in der Gesellschaft

Polens neue Regierung kämpft für mehr Rechte für Homosexuelle. Jetzt zeigt sich, die Unterstützung in der Bevölkerung dafür wächst immer mehr an.
Zu viel LGBTI* im TV?

LGBTI*-Charaktere im US-Fernsehen

Binnen eines Jahres gab es fast 20 Prozent weniger LGBTI*-Charaktere im US-Fernsehen. Ist der Markt übersättigt oder gibt es andere Gründe?
Tödliche Penisvergrößerung

Bundesgerichtshof bekräftigt Urteil

Der Wunsch nach einem „monströsen Gehänge“ endete für einen Schwulen tödlich. Das Urteil gegen den Pfuscher der Penisvergrößerung ist nun rechtskräftig.
Einheitliche Haftbedingungen

EU-Komitee fordert bessere Regelungen

Seit Jahren lodert die Streitdebatte, wie mit Trans-Häftlingen umzugehen sei. Nun hat der Europarat seine Empfehlungen veröffentlicht.