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Verloren im Digitalen
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Klick. Klick. Klick Verloren im Digitalen

ms - 12.11.2022 - 12:00 Uhr

Klick. Klick. Klick. Binnen Sekunden switchen wir an diesen grauen November-Tagen durch die bunte Onlinewelt. Mit Instagram, Twitter und TikTok sind wir scheinbar live dabei, wenn Blauwale irgendwo im Ozean vor den erstaunten Gesichtern einiger Surfer ihre Flanke aus dem tiefblauen Wasser erheben. Klick. Wir begleiten unseren liebsten Pornostar, wie er uns zwinkernd und oben ohne vom letzten, aufregenden Filmdreh an der afrikanischen Küste erzählt. Und wie unfassbar schön der Sonnenuntergang hier ist. Klick. Wir lachen über den neusten Comic unseres Lieblingsautors. Klick. Ein neuer Trailer für einen coolen Film - wie spannend. Klick. Ein guter Freund, der gerade im Urlaub ist und sich an einem Pool rekelt. Klick. Wäre es nicht dringend wieder an der Zeit, selbst ein neues Lifestyle-Bild von sich zu posten? Beim Frühstück zum Beispiel? Mit dem Kaffeebecher in der Hand? Oder im neusten Harness, sodass der Body so richtig schön sexy zur Geltung kommt? Klick. Klick. Klick.

Bleibt nur eine Frage: Was verdammt noch einmal tust du da? Und wie blöd sind wir eigentlich? Bist du es nicht langsam leid, dich selbst andauernd zu belügen? Natürlich wissen wir, dass die ganzen Hochglanz-Aufnahmen nicht wirklich der Realität entsprechen, vieles davon ist gestellt, beschönigt, bereinigt, verbessert. Und obwohl wir das wissen, machen wir mit, erzählen uns gegenseitig, wie toll die Party, wie einzigartig das Date, wie sexy der letzte Kerl war. Wir kennen das Spiel bereits von den ganzen Dating-Profilen, in denen wir uns möglichst erotisch präsentieren. Gerade in den Großstädten scheint dies irgendwie auch zwingend notwendig zu sein, ein normaler Typ wird schnell aussortiert zwischen all den scheinbaren Superstars, die sich online tummeln. Ist normal schon das neue hässlich? Inzwischen tragen wir diese Scheinwelt aber auch immer mehr in unser restliches Leben hinein, wir bauen Stück für Stück das Kartenhaus aus Illusionen für unsere engsten Freunde auf. Instagram, Facebook, Whatsapp - eine Welt, die uns entgleitet und wir trotz aller Bedanken anscheinend immer noch freiwillig dieses Selbstbildnis weiter zelebrieren, gegen das wir in der Realität immer nur verlieren können. Wir sind nicht immerzu so witzig, originell und einzigartig, wie das all die flimmernden Zehn-Sekunden-Videos suggerieren. Doch wir machen weiter mit, selbst dann, wenn wie im Falle von TikTok klar ist, dass der Social-Media-Gigant bis heute die staatstreue chinesische Richtlinie verfolgt und alles abseits der heterosexuellen Norm unterdrückt. Wir sind dabei, weil wir dabei sind. Reicht das als Argumentation inzwischen wirklich bereits aus? Schon vor Covid-19 stieg die Zahl der Stunden, in denen wir tagtäglich online sind, von Jahr zu Jahr an. Die einstmals als modern gepriesene Aussage “Ich leb´ online“ ist heute kein futuristischer Werbespruch mehr, sondern bittere Realität. Das Heilsversprechen ist zur Grabesrede geworden. Seitdem die Pandemie nun Einzug in unser Leben gehalten hat und die Auswirkungen zusammen mit Affenpocken, Ukraine-Krieg und steigenden Energiekosten noch mehr die innere Isolation vieler schwuler Jungs und Männer befeuern, flüchten wir uns noch mehr in die digitale Welt.
Sollten wir tatsächlich in den nächsten Monaten oder schlimmstenfalls Jahren tatsächlich deutlich weniger Geld übrighaben oder gar unsere Ersparnisse für das alltägliche Leben aufbrauchen müssen, wird die Flucht zu den sozialen Medien noch mehr zur inneren Weltreise. Wir spüren den Wind nicht mehr in unseren Haaren, riechen nicht mehr das Meer, hören nicht mehr, wie der Waldboden unter unseren Füßen knackt oder der Sand unsere Fußsohlen verbrennt, aber wir können in kurzen Klicks wenigstens daran teilhaben, wenn andere dies erleben. Klick. Klick. Klick. Abseits von derzeit unveränderlichen Rahmenumständen wie eine leere Reisekasse gibt es aber auch viele unter uns, die sich nur zu gerne der Argumentationsvielfalt ergeben und noch mehr in digitalen Welten surfen. Immer mehr werden wir dabei nicht nur zu stummen Beobachtern, wir wollen Akteure sein, die Weitsicht und Weltsicht wenigstens durch Draufsicht und schonungslose Innenansicht begegnen können. Unsere eigene Zuversicht bleibt dabei oftmals auf der Strecke, aber wen kümmert es, ist ein digitales Leben nicht auch ein Leben? Und fühlt sich die Wärme der roten Instagram-Herzen nicht beinahe ein wenig wie Liebe an? Wie schlimm können da schon ein Dutzend mehr Bilder von mir und meinem Leben sein?    

Aber ist es nicht dabei endlich an der Zeit, dass wir uns wieder mehr auf unsere Privatsphäre besinnen? Ein beinahe altertümlich anmutendes Wort, das gerade von Jüngeren oftmals mit einem Lächeln goutiert wird. Man habe schließlich nichts zu verbergen und es dürfe durchaus jeder den tollen Body, den großartigen Penis oder den sexy Hintern sehen. Who cares? Whistleblower Edward Snowden schrieb dazu einst in seinem Bestseller Permanent Record: “Zu behaupten, dass unsere Privatsphäre egal ist, weil wir nichts zu verbergen haben, ist letztlich dasselbe, als würden wir behaupten, dass uns die freie Meinungsäußerung egal ist, weil wir nichts zu sagen haben.“ Kurz gesagt, es ist ziemlich dumm! Doch selbst wenn wir all die Aspekte von Datenverlust einmal außer Acht lassen, selbst wenn uns diese Freizügigkeit irgendwann in ein paar Jahren schaden könnte, gibt es noch einen ganz anderen Punkt, der bereits jetzt negativen Einfluss auf uns hat – unsere Gesundheit und unsere Psyche leiden. Das Loch, aus dem wir in den kaltnassen kommenden Monaten entrinnen wollen, verschlingt uns. Der eine Faktor dabei ist unsere Vereinsamung, ein Phänomen, das gerade innerhalb unserer Szene immer mehr und seit Corona immer dramatischer Einzug hält. Wir kommunizieren immer mehr nur noch über unsere Smartphones miteinander, eine soziale Interaktion findet dagegen immer seltener statt. Während zuletzt Kontaktsperren und Lockdowns als wohlfeile Begründung ausreichten, haben wir jetzt die Bequemlichkeit und Schnelligkeit entdeckt, mit der sich digital vieles scheinbar besser erledigen lässt – vom lästigen Treffen bis hin zum Wochenendeinkauf. Diese, auf Effizienz ausgelegte Lebenswelt sorgt trotzdem nicht für mehr freie Zeit, für mehr Life in der Work-Life-Balance, sondern nur dafür, dass wir oftmals bewusst wie unbewusst dazu übergehen, jenes getaktete Zeitmanagement auch in unserem Privatleben zu übernehmen. So neigen wir durch die scheinbar anonyme Welt dazu, unser Gegenüber auch immer öfter respektloser zu behandeln. Entspricht der Superboy nicht ganz seinem Hochglanz-Chatprofil, wird er einfach gesperrt. Gespräche sind von gestern. Bitte keine Zeitverschwendung! Wir haben doch keine Zeit – für das Leben. Es dauert eine Weile und bedarf zumeist eines gewissen Alters, um zu begreifen, dass die Zeit, die wir scheinbar nutzlos verschwenden, oftmals die schönste ist.

Ein anderer Punkt ist die Tatsache, dass wir durch die häufige Benutzung von Instagram, TikTok, Twitter, Snapchat, Facebook und Konsorten schlechter schlafen und sogar Erinnerungen immer mehr verdrängen. Zudem kann unsere Psyche, gerade und vor allem bei jungen Männern, geschädigt werden, so eine Studie der britischen Gesundheitsorganisation Royal Society. Die Fakten sind klar: Vor allem bei jungen Menschen bis 24 Jahren führen Social-Media-Dienste zu einem verminderten Selbstwertgefühl bis hin zu mannigfaltigen Komplexen unterschiedlichster Art. Im weiteren Verlauf sind Depressionen keine Seltenheit, die die oftmals anderweitig bereits vorhandenen depressiven Verstimmungen gerade unter jungen Homosexuellen noch verstärken können. Ein Grund liegt nach Aussagen der Wissenschaftler tatsächlich darin, dass wir uns stets mit den scheinbar perfekten Vorbildern vergleichen und nie zufrieden dabei sein können. Ein anderer Aspekt ist das Problem unserer eigenen Bubble, also all der Algorithmen, die für uns die perfekte Welt in Dauerschleife erschaffen und uns dabei eine Vielfältigkeit suggerieren, die doch nur streng gefilterte Einfalt ist. Das reale Leben muss draußen bleiben.   

© iStock / IconicBestiary

Erinnerst du dich noch an den Blauwal zu Beginn dieses Textes? Oder an den Freund, der gerade im Urlaub ist? Wir suchen uns zielgenau für unsere eigene Sehnsucht und der Bestätigung unseres Gefühls, stets etwas zu verpassen, immer die besten Bilder der anderen Menschen heraus und bekommen so Schritt für Schritt den gefestigten Eindruck, in unserem eigenen Leben nur eine Nebenrolle zu spielen. Unser Leben ist langweilig. Die britische Gesundheitsorganisation schätzt die sozialen Medien inzwischen als süchtig machender ein als zum Beispiel Zigaretten oder Alkohol. Klingt verrückt? Gut, dann schalte dein Smartphone ab und nutze es erst wieder in einer Woche. Easy? Oder doch nicht? Während einige von uns lachen müssen, wenn Prominente schweren Herzens eine Social-Media-freie-Zeit von ein paar Tagen verkünden, stellt das für andere unter uns bereits eine ernsthafte Bedrohung dar. Unser kritikfreier Umgang mit selbstdarstellenden Apps ist mehr als eine Lappalie, es ist eine ernstzunehmende Gefahr. Das bestätigen auch deutsche Forschungszentren wie die Deutsche Gesellschaft für Suchtforschung.

 

Für Männer, die vor 1990 geboren sind, mag es manchmal seltsam anmuten, wenn wir über diese verzerrte Selbstdarstellung und den Umgang damit reden - in ihren Teenager-Jahren spielte man noch draußen im Garten und die höchste Form von bewegten und irgendwie durchgedrehten Bildern war das Aufkommen des anfangs archaischen Privatfernsehens. Junge Schwule heutzutage kennen die Welt dagegen nur als eine digitale, eine ständig vernetzte. Eine, in der wir stets zur Verfügung stehen müssen und eine, in der die Selbstdarstellung unseres Lebens und unserer Erlebnisse wichtiger geworden scheint, als unsere persönlichen Wünsche und Träume. Für sie ist der alte AOL-Werbespruch „Ich bin drin“ eine zwingende Notwendigkeit, denn nur guter Content schafft Awareness.  

Wir leben fürwahr in einer seltsamen Zeit, eine Zeit, in der die Rechte von Homosexuellen Schritt für Schritt wieder beschnitten werden, in der es nur totale Begeisterung oder totalen Hass gibt, in der die Wahrheit zu einer variablen Größe geschrumpft ist und Krieg, Corona und Klimakrise zu allgegenwärtigen Bedrohungen geworden sind. Um wie viel erdrückender müssen sich manch junge Menschen fühlen, die diese fatale Mischung in ihrem bisherigen Leben als Alltag erfahren haben, ohne sich an andere Zeiten ernsthaft noch erinnern zu können? Ist es also nicht langsam an der Zeit, etwas besser auf uns selbst zu achten? Jung wie alt? Es tut uns nicht gut, wenn wir uns immer mehr in eine Scheinwelt flüchten, die mit unserer Realität nicht mehr viel zu tun hat und in der Aufregung und Erregung Hand in Hand gehen. Das schafft nur Frustration auf beiden Seiten - denn das Ideal von Glück, Freude und dem perfekten Körper wird keiner von uns aufrechterhalten können. Wäre es dagegen nicht einmal spannend, unsere digitalen Helfer zur Seite zu legen, sie tatsächlich auch als Helfer und nicht als Heiland anzusehen, uns dann mehr auf uns selbst zu konzentrieren und daraufhin vielleicht auch wieder Freunde, Menschen, Männer im realen Leben zu treffen? Die sind nicht perfekt, sicherlich, so wie wir es auch nicht sind, aber es gibt sie dafür wirklich. Und die meisten von ihnen machen uns auch nicht psychisch krank - das sind noch schon einmal großartige Pluspunkte, oder nicht?

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