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Steht zu eurem Wort!

Steht zu eurem Wort! Gelingt das Menschenrechtsverfahren gegen Ungarn?

ms - 13.02.2023 - 14:14 Uhr

Seit heute können die EU-Mitgliedsstaaten schriftlich Stellung beziehen zum eingeleiteten Vertragsverletzungsverfahren gegen das ungarische, umgangssprachliche Anti-Homosexuellen-Gesetz aus dem Jahr 2021. In ihrer ersten gemeinsamen Presseerklärung bekräftigten drei LGBTI*-Organisationen, dass sie ab sofort Druck auf jene zwanzig EU-Staaten ausüben wollen, die das menschenfeindliche Gesetz im Vorfeld kritisiert hatten. Gelingt dies, handelt es sich um das größte Menschenrechtsverfahren, das jemals vor dem Gerichtshof der Europäischen Union angestrengt wurde.

Hass passt nicht zu den EU-Werten

Den drei LGBTI*-Organisationen Forbidden Colours, der Háttér-Gesellschaft sowie Reclaim ist es dabei nicht nur wichtig, das Gesetz in Ungarn zu stoppen, sondern auch allen anderen Mitgliedsstaaten wie beispielsweise Polen damit klarzumachen, dass solche Richtlinien nicht mit den Werten der EU in Einklang zu bringen sind. „Die Regierung von Ungarn, einem Mitgliedstaat der Europäischen Union, kopiert russische Gesetze und zensiert seine LGBTIQ+-Gemeinschaften. Wir müssen alles in unserer Macht Stehende tun, um alle ungarischen Bürger vor dieser schädlichen Ideologie im Stile Putins zu schützen. Jeder ungarische Bürger hat ein Recht auf Freiheit, und Kinder haben das Recht auf Informationen über Sexualität und Geschlecht", so Rémy Bonny, Exekutivdirektor von Forbidden Colours.

Ein Hass-Gesetz wie in Russland

Das Gesetz LXXIX, besser bekannt als Anti-Homosexuellen-Gesetz, sollte 2021 ursprünglich nur verschärft werden, um gezielter gegen pädophile Straftäter vorgehen zu können und Kinder damit besser zu schützen. Durch Änderungen in letzter Minute wurden jedoch Bestimmungen in das Gesetz aufgenommen, die sich gezielt gegen Homosexuelle wenden und beispielsweise eine positive Darstellung in den Medien oder in den Schulen weitestgehend verbieten. Ein sehr ähnliches Gesetz existiert bereits seit 2013 in Russland und wurde Ende letzten Jahres sogar noch einmal dramatisch verschärft.

EU-Kommission zögerte Verfahren hinaus

Bereits im Sommer 2021 hatte die Europäische Kommission daraufhin die Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens gegen Ungarn bekanntgegeben. Die Kommission vertrat die Auffassung, dass dieses Gesetz gegen die Menschenwürde, die Meinungs- und Informationsfreiheit sowie das Recht auf Achtung des Privatlebens verstoßen würde, die allesamt in der EU-Charta der Grundrechte verankert sind. Nach monatelangen Diskussionen erklärte die Europäische Kommission ein Jahr später schließlich, dass der Fall an den Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) verwiesen wird – ein halbes Jahr lang geschah allerdings abermals nichts. Erst auf Druck von LGBTI*-Verbänden wie Forbidden Colours wurde der Fall schließlich von der EU-Kommission offiziell Ende letzten Jahres eingereicht und heute im Amtsblatt der EU veröffentlicht. Die EU-Mitgliedsstaaten haben jetzt sechs Wochen Zeit, dem EuGH "schriftliche Stellungnahmen" zu dem Fall zu übermitteln.

Echtes Engagement oder leere Versprechungen?

"Im Juni 2021 hatten 20 Mitgliedstaaten die Annahme der ungarischen 'Anti-LGBTIQ+-Propaganda' verurteilt. Heute fordern wir sie auf, zu ihren Erklärungen zu stehen. Wir fordern sie auf, diesen Worten Taten folgen zu lassen. Wir fordern sie auf, unsere EU-Werte der Inklusion, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie zu verteidigen“, so Vincent Reillon, Referent für Öffentlichkeitsarbeit und Politik bei Forbidden Colours. Die Europäische Union selbst wie auch die Mehrzahl der Mitgliedsstaaten hatten sich in den letzten zwei Jahren immer wieder für die LGBTI*-Community ausgesprochen, gerne auch bei bedeutsamen Tagen wie dem Internationalen Tag gegen Homophobie. Nun können die Länderchefs zeigen, wie ernst sie es mit diesen Beteuerungen wirklich gemeint haben.  

Noch nie dagewesener Angriff auf LGBTI*

"Wir fordern die Mitgliedstaaten auf, sich dem Vertragsverletzungsverfahren anzuschließen und die Europäische Kommission zu unterstützen. Der von der ungarischen Regierung begonnene Kreuzzug gegen LGBTQI+ Menschen muss aufhören. Das sogenannte ´Kinderschutzgesetz´ verletzt nicht nur das Recht der Kinder auf Bildung und Zugang zu objektiven, kritischen und vielfältigen Informationen über Sexualität und geschlechtliche Vielfalt, sondern hat auch eine weitreichende abschreckende Wirkung und verdrängt Diskussionen über LGBTQI-Rechte und -Themen aus dem öffentlichen Diskurs. Dies ist ein noch nie dagewesener Angriff auf die Rechte von LGBTQI+, und die Mitgliedstaaten können ihm ein Ende setzen, indem sie sich mit der Kommission zusammenschließen", bekräftigt auch Eszter Polgári, Direktorin des Rechtsprogramms Háttér-Gesellschaft.

Großes Schweigen aus Angst vor Sanktionen

Dabei betonen alle drei Organisationen auch, dass das ungarische Gesetz so schwammig formuliert sei, dass viele Schulen aus Angst vor Repressalien jedwede Gespräche zu LGBTI*-Themen lieber gänzlich aus dem Unterricht gestrichen haben. „Das Schweigen mag Medien- und Bildungsexperten vor Sanktionen schützen. Dies bringt jedoch Kinder, die einer sexuellen oder geschlechtlichen Minderheit angehören, in eine prekäre Lage. Das sogenannte ´Kinderschutzgesetz´ lässt LGBTIQ+-Kinder, die oft Mobbing, Stigmatisierung und sogar Gewalt ausgesetzt sind, allein“, so das Urteil der drei LGBTI*-Organisationen. "Die Orbán-Regierung nutzt den Kinderschutz als Vorwand, um die Rechte von Kindern und die Meinungsfreiheit zu beschneiden - genau wie in Putins Russland, wo ein ähnliches Gesetz die Medien unterdrückt und LGBT-Kinder und -Jugendliche einem erhöhten Risiko von Diskriminierung und Selbstverletzung ausgesetzt hat. Die Mitgliedstaaten müssen sich vor dem EuGH zusammentun, um diese hasserfüllte Politik in den Mülleimer der Geschichte zu befördern und sicherzustellen, dass keine andere Regierung eines Mitgliedstaats sie jemals wiederholen wird“, so Esther Martinez, Geschäftsführerin von Reclaim, abschließend.

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