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Queere LGBTI*-Flüchtlinge wie Dreck behandelt // © IMAGO / Stefan Zeitz

Schwules Pärchen aus Zug geprügelt Die Zahl der queeren Menschen auf der Flucht wird weiter ansteigen

ms - 22.03.2022 - 11:15 Uhr
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In einer ersten Schätzung von Remy Bonny, dem Direktor der europäischen LGBTI*-Hilfsorganisation Forbidden Colours, wurde von rund 100.000 queeren Flüchtlingen gesprochen, die in den Nachbarländern der Ukraine und auch in Deutschland erwartet werden – inzwischen dürfte die Zahl noch einmal ansteigen. Je massiver die Anschläge vor Ort werden, desto mehr LGBTI*-Menschen machen sich doch auf die Flucht, so die Erfahrungen einiger Aktivisten vor Ort. Auch Hilfsorganisationen aus Deutschland rechnen mit einer möglichen Zunahme.

Gegenüber dem Tagesspiegel erzählten Ehrenamtliche aus Berlin, wie sie die letzten Tage erlebt haben. Sie sind täglich seit drei Wochen am Berliner Hauptbahnhof und stehen queeren Geflüchteten mit Rat und Tat zur Seite, um beispielsweise queerfreundliche Unterkünfte zu finden oder auch anderweitig zu helfen. Dabei zeigt sich immer wieder, dass viele LGBTI*-Menschen erst sehr vorsichtig und zaghaft überhaupt Kontakt zu den queeren Helfern vor Ort aufnehmen. Zum einen, weil sich viele Geflüchtete nicht vor anderen Ukrainern outen wollen, zum anderen herrscht auch ein gewisses Misstrauen darüber, ob das Hilfsangebot nicht eine Falle ist, um LGBTI*-Menschen gezielt abzufangen. Viele queere Ukrainer haben in besonderem Maße Anfeindungen während ihrer Flucht erlebt, so der schwule Modedesigner Patrick Sonberger gegenüber dem Tagesspiegel, der in seinem Urlaub als Ehrenamtlicher am Bahnhof hilft: 

„Ein junges schwulen Pärchen hat mich sehr lange beobachtet, bis ich sie schließlich angesprochen habe. So kamen wir ins Gespräch und sie haben Vertrauen gefasst. Sie haben erzählt, dass sie sich nicht sicher waren, ob wir hier vielleicht nur undercover stehen, um sie in eine Falle zu locken. Wie es wohl oft in Russland der Fall ist. Sie gehören zu der Gruppe ausländischer Studierenden in der Ukraine, die aufgrund des Krieges ja nun auch Hals über Kopf das Land verlassen haben.“

Am Bahnhof in Krakow findet man diesen Hinweis // © IMAGO / NurPhoto

Nebst dem Bündnis für Queere Nothilfe Ukraine, ein Zusammenschluss von rund 60 LGBTI*-Organisationen aus Deutschland, versuchen auch internationale LGBTI*-Gruppen wie beispielsweise auch Forbidden Colours gezielt in Ländern wie Polen, Ungarn und Rumänien Anlaufpunkte für LGBTI*-Flüchtlinge aus der Ukraine zu schaffen. Die traumatischen Erlebnisse der Flucht selbst wie beispielsweise bei dem schwulen Paar am Berliner Hauptbahnhof können aber auch sie nur schwerlich verhindern. Patrick Sonberger noch einmal:  

„Die beiden kommen ursprünglich aus Marokko und haben in Kiew Medizin studiert. Es ist sehr offensichtlich, dass sie zur queeren Community gehören, und sie haben erzählt, dass ihre Ausreise extrem schwierig war. Sie wurden aus mehreren Zügen geprügelt und wie der letzte Dreck behandelt. Irgendwie haben sie es aber doch über die Grenze geschafft. Bei solchen Erfahrungen kann ich auch ihre anfängliche Skepsis uns gegenüber verstehen (…) Jedes Schicksal ist individuell, aber wir hören vor allem erst einmal zu und stellen kaum Fragen – außer die wichtigsten: Haben Sie etwas zu essen? Was brauchen Sie? Wir versuchen, erst einmal zu entschleunigen. Nach meiner Erfahrung stehen die Menschen nach den letzten Wochen enorm unter Strom. Wir vermitteln ihnen: Ihr seid in Sicherheit und jetzt geht es Schritt für Schritt weiter. Dann geht es um die weitere Unterbringung, die immer schwieriger wird.“

Derzeit sprechen die Ehrenamtlichen vor Ort täglich mit rund einem Dutzend queerer Flüchtlinge in Berlin, wobei die Zahl der LGBTI*-Menschen auf der Flucht noch einmal rapide ansteigen könnte, seitdem nun auch der Westen der Ukraine unter Beschuss steht. In diese Region hatten sich zuletzt viele Queers in der Ukraine gerettet. Sonberger selbst erlebt dabei tagtäglich dramatische Szenen, beispielsweise, als eine trans-Frau zu ihm kam, die seit acht Tagen auf der Flucht war: 

„Seit acht Tagen trug sie ihre Kontaktlinsen und hatte entzündete Augen. Sie konnte sie aber nicht rausnehmen, weil sie keine Brille dabeihatte, und ohne Kontaktlinsen sah sie nichts. Ich habe sie an die Hand genommen, wir sind zum Optiker gegangen und sie hat einen Sehtest gemacht. Ich habe ihr die Brille gekauft, weil ich einfach dachte, die Person muss doch erst einmal richtig sehen, wo sie eigentlich gelandet ist. Mithilfe der Organisation Quarteera haben wir mit viel Geduld für sie erst einmal ein sehr schönes Zuhause bei einem lesbischen Pärchen gefunden. Die haben sich auch sehr gefreut, dass sie zu ihnen kommt. Die beiden Hunde konnte sie auch noch mitnehmen. Genau für solche Menschen stehen wir hier. Dass wir diese vulnerablen Personen sicher unterbringen können und ihnen das Gefühl geben, du bist eine oder einer von uns. Du bist hier nicht allein! Ich bin schwul, lebe mit meinem Freund zusammen in Berlin und habe ehrlich gesagt zu dem ganzen Kriegsthema persönlich gar keine Verbindung. Aber ich glaube, ich bin Mensch genug, um zu sehen, dass all die Menschen, die hier jetzt ankommen, wie du und ich sind. Ich musste handeln. Es ist für die Seele schwer. Ich stehe teilweise 14 Stunden hier, weil es kein Ende nimmt.“

Aktuell werden dabei dringend Unterbringungsmöglichkeiten speziell für queere Menschen gesucht – wer helfen kann, möge sich baldmöglichst bei der Organisation Quarteera melden. Finanzielle Spenden nimmt nach wie vor das Bündnis Queere Nothilfe Ukraine sehr gerne entgegen.

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