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Orbán fordert Toleranz für LGBTI*-Intoleranz
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Ungarn: Austritt aus EU wegen LGBTI*? Orbán fordert Toleranz für LGBTI*-Intoleranz

ms - 14.02.2022 - 12:30 Uhr

Einmal mehr versucht ein homophober Machthaber massiven Druck auf die Europäische Union auszuüben – dabei geht es allerdings um wesentlich mehr als den oberflächlichen Kampf um Finanzhilfen und Mitgliedschaften. Im Kern dreht es sich um die eine Frage: Knickt die Europäische Union ein, wenn es um Menschenrechtsfragen wie dem Schutz der LGBTI*-Community geht?

Zum Auftakt des Wahlkampfes in Ungarn (Wahl Anfang April) hielt Orbán am letzten Wochenende eine Rede zur Lage der Nation“ und zeichnete dabei das altbekannte Bild eines tugendhaften Landes, das sich den Werten von Familie und Nationalität verpflichtet sieht, und von den „Bürokraten aus Brüssel“ zu Werten aus Westeuropa gezwungen werden solle, die das Land selbst nicht will. Die Europäische Union führe dabei einen „Heiligen Krieg, einen Dschihad" gegen Ungarn, so der Ministerpräsident in Budapest. Neu an seinen Hasstriaden ist zum einen die direkte Drohung, aus der EU austreten zu wollen wie auch die besondere Betonung auf die Familienpolitik – gerade in Bezug auf die LGBTI*-Lebensweisen.

Ähnlich wie in Russland hat Ungarn zuletzt im Sommer 2021 ein Gesetz erlassen, das „Werbung“ für Homo- und Transsexualität verbietet. Bücher, Filme und Informationen mit LGBTI*-Thematiken sind seitdem nur noch sehr eingeschränkt zu bekommen. Abermals soll versucht werden, queeres Leben in einem Land de facto unsichtbar zu machen. Natürlich alles wie stets argumentativ untermauert – wir ahnen es – zum Schutz der Kinder. In seiner Rede am Wochenende unterstrich er nun diese Gesinnung abermals, bekräftigte, keineswegs so werden zu wollen wie Westeuropa und sprach von einer „wachsenden kulturellen Entfremdung.“ Beinahe großmütig kündigte Orbán zudem an, Ungarn wolle Westeuropa gar nicht verändern, erwarte dann aber auch, dass Europa dem Land nicht seine liberalen Werte aufzwinge. Übersetzt bedeutet das: Euer Geld, liebe EU, nehmen wir gerne, aber bitte verschont uns mit Menschenrechten.

© jacquesvandinteren
© jacquesvandinteren

Von der EU aus fließen jährlich Ausgaben von mehr als sechs Milliarden Euro nach Ungarn – das entspricht rund fünf Prozent der gesamten Wirtschaftsleistung des Landes. Über 80 Prozent aller Exporte des Landes gehen in EU-Länder, an erster Stelle dabei nach Deutschland mit 27 Prozent. Verständlich also, dass über 80 Prozent der ungarischen Bevölkerung Mitglied in der EU bleiben wollen. Orbáns Drohung ist also vor allem eines: ein Kräftemessen. In dieser Woche entscheidet der Europäische Gerichtshof (EuGH) darüber, wie der neue sogenannte Rechtsstaatsmechanismus in der EU angewandt werden kann. Sollte der EuGH entscheiden, dass künftig Ländern Gelder aus dem EU-Haushalt gestrichen werden können, wenn diese gegen die Rechtsstaatlichkeit verstoßen, könnte das harte finanzielle Konsequenzen für Ungarn wie auch für Polen bedeuten – beide homophoben Länder hatten gegen den Rechtsstaatsmechanismus geklagt. Sollten die beiden Länder mit ihrer Klage keinen Erfolg haben, ist EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen gefragt.

Der EU-Parlamentarier Moritz Körner (FDP/Renew) forderte bereits in einem Interview mit der Welt am Sonntag und dem WDR, dass die EU jetzt Druck machen und den Rechtsstaat schützen müsse. Sollte von der Leyen nach einer positiven Entscheidung des EuGH sich weigern, diesen Rechtsstaatsmechanismus anzuwenden, wollen die FDP-Abgeordneten im Europäischen Parlament dafür einstehen, die EU-Mittel für von der Leyen und ihre engsten Mitarbeiter einfrieren zu lassen. Die Forderung steht bereits im Änderungsantrag zu den Richtlinien für den Haushalt 2023.

In einem Punkt muss man Orbán dabei allerdings recht geben: es geht um unsere Werte. Die Europäische Union ist zuallererst eine Werte-Gemeinschaft, ein Bund, der Frieden, Menschenrechte und Wohlstand in Europa sichern und stärken soll. Es geht darum, die gleichen grundsätzlichen Werte in demokratischen Staaten zu stärken. Das Problem, dem sich die Europäische Union nun mit Bezug auf Ungarn und Polen stellen muss, ist die Frage: Wie agiert diese Wertegemeinschaft, wenn einzelne Mitglieder die freiheitlichen Werte zurückdrehen wollen? Niemand hatte bei der Gründung der EU daran gedacht, dass die Entwicklung auch wieder rückwärts laufen könnte und man ernsthaft mitten in Europa erneut über Gleichberechtigung, Pressefreiheit und Menschenrechte diskutieren müsste.

Knickt die Staatengemeinschaft nun ein, könnte dies schrittweise zum Zerfall der gesamten Union führen. Was bleibt von einem Bündnis übrig, wenn man sich nicht einmal mehr auf gemeinsame Werte einigen kann? Dazu gehören auch zwingend die Rechte für alle LGBTI*-Menschen. So klingt es beinahe wie ein besonders dreister Witz, dass ausgerechnet Orbán die Europäische Union am Wochenende dazu aufgerufen hat, sie möge mehr Toleranz zeigen. Der britische Philosoph Karl Popper brachte das „Paradoxon der Toleranz“ so auf den Punkt: „Uneingeschränkte Toleranz führt mit Notwendigkeit zum Verschwinden der Toleranz. Denn wenn wir die uneingeschränkte Toleranz sogar auf die Intoleranten ausdehnen, wenn wir nicht bereit sind, eine tolerante Gesellschaftsordnung gegen die Angriffe der Intoleranz zu verteidigen, dann werden die Toleranten vernichtet werden und die Toleranz mit ihnen.“

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