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LGBTI*-Menschen auf dem Land // © svetikd
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Wie leben LGBTI*-Menschen auf dem Land? Nationaler Aktionsplan gegen Queerfeindlichkeit soll bis zum Sommer erarbeitet werden!

Redaktion - 04.03.2022 - 13:19 Uhr

Das Bundesministerium für Familien, Senioren, Frauen und Jugend lud heute queere Aktivisten, Experten, Lehrer und Schüler zum Fachgespräch ein, um darüber zu diskutieren, wie die alltägliche Realität von LGBTI*-Menschen auf dem Land aussieht. Dabei wurden gleich zu Beginn auch Klischees aufgegriffen, die in der queeren Community allgemein weit verbreitet sind – ein bekanntes Denkmuster ist zum Beispiel, dass alle LGBTI*-Menschen auf dem Land den Drang verspüren würden, schnellstmöglich in eine Stadt mit einer großen queeren Community zu ziehen, beispielsweise nach Berlin, Hamburg, Köln oder München. Dem widersprach Fabian Schrader, der seit rund zwei Jahren in seinem Podcast „Somewhere over the Hay Bale“ über queeres Landleben in Sachsen-Anhalt berichtet. Nicht alle Queers hätten „Bock darauf, in der Stadt zu leben“, gerade auch, weil ein Landleben eine besondere Form von Freiheit bedeuten könne und man dort leichter die Möglichkeit habe, Räume und Leerstellen bewusst politisch zu besetzen. Kurzum, die Aktionsmöglichkeiten sind andere als in der großen Stadt, dessen schnell getakteter Lifestyle nicht allen LGBTI*-Menschen zusagt. Zwar müsse man laut Schrader öfter nach Anschluss suchen, doch meistens finden sich im eigenen Ort oder in der Nachbargemeinde queere Jugendtreffs oder anderweitige Anlaufpunkte. Geschätzt leben rund drei Millionen Queers in Deutschland auf dem Land.

Zu Gast war auch der Queer-Beauftragte der Bundesregierung, Sven Lehmann. Er bestätigte, dass es sich für queere Menschen nicht automatisch leichter oder sicherer in der Stadt leben lässt – auch dort seien LGBTI*-Personen von Hasskriminalität und Diskriminierung betroffen. Allerdings haben laut Lehmann viele Land-Queers wohl immer mal wieder den Eindruck, alle Fortschritte immer selbst erkämpfen zu müssen: „Ich hoffe, dass sich das in Zukunft etwas ändert. Wir sind auch ja deswegen in der Bundesregierung angetreten, um zu zeigen, die Regierung steht an der Seite von queeren Menschen!“ Die Bundesregierung will mit diversen Projekten und Angeboten LGBTI*-Menschen auch auf dem Land stärker unterstützen. Zudem rät Lehmann aber auch, dass man als Queer pro-aktiv LGBTI* zum Thema machen sollte, um sich sicherer zu fühlen – gerade eben auch in jenen Gemeinschaften, die auf dem Land stark ausgeprägt sind wie beispielsweise in Vereinen, Kirchengemeinden oder auch Karnevalsgruppen.

Im zweiten Teil des Fachgesprächs wurden zwei queere gymnasiale Jugendschulgruppen aus Niedersachen und Rheinland-Pfalz vorgestellt. Das Credo war dabei, dass queeres Leben auch auf dem Land möglich sei. Durch das intensive Engagement der queeren Gruppen hat sich das Bild von LGBTI*-Menschen innerhalb der Schulen geändert, sodass inzwischen queere Jugendliche aus anderen Teilen des jeweiligen Bundeslandes gerne zur Bildungseinrichtung mit dem queeren Jugendgruppenangebot wechseln. An manchen Schulen seien inzwischen 25 Prozent der Schüler queer, schätzen beispielsweise die Verantwortlichen des Gymnasiums Konz in Rheinland-Pfalz. Lehrerin Julia Lehnertz dazu: „Vielleicht gibt es Kollegen und Schüler, die skeptisch sind, aber ich erfahre hauptsächlich Unterstützung und Zuspruch. Ich glaube, es ist uns gelungen, in vielen Dingen zu überzeugen. Vieles läuft sehr gut. Es ergeben sich viele Vernetzungsmöglichkeiten, zudem ist es auch als Lehrerin eine sehr sinnstiftende Arbeit!“ Eines zeigen die Berichte der beiden exemplarischen Schulen klar und deutlich: Die Situation von Queers an den Schulen hat sich in den letzten zwanzig Jahren deutlich geändert – Themen rund um LGBTI* finden immer öfter endlich Gehör, was vor einigen Jahrzehnten noch gar nicht vorgekommen ist, wie auch Sven Lehmann bestätigt.

Ist also alles wunderbar? So einfach ist es nicht – immer wieder wird auch klar, dass die Angebote in ländlichen Gebieten noch immer längst nicht so gut ausgebaut sind, wie sie sein sollten, damit queere Menschen nicht ihre Heimat verlassen müssen, um Schutzräume und queere Angebote zu erleben. Aber: Das Interesse an queerem Leben ist durchaus vorhanden, gerade auch an den Schulen, wo zu Beginn die LGBTI*-Gruppen noch skeptisch beäugt worden waren und mit Vorurteilen belegt wurden. Auch einige Lehrer dachten anfangs noch, die queeren Schülergruppen seien nicht viel mehr als eine Art von Selbsthilfegruppe. Dabei geht es in den Schülern hauptsächlich darum, ein Bewusstsein für Queerfeindlichkeit zu schaffen, die gerade in den unteren Schulklassen noch verstärkt auftritt. Die Aufklärungsarbeit falle inzwischen auf fruchtbaren Boden. Trotzdem zeigt sich aber auch, dass solche positiven Fälle noch immer eher Einzelfälle sind – die Situation für queere Schüler sei eine andere an Schulen, an denen es nicht solche „sicheren Häfen“ wie eine queere Schülergruppe gäbe. Wichtig wäre es, dass Lehrer landesweit zum Thema LGBTI* ausgebildet werden beziehungsweise Fortbildungskurse besuchen müssen, um ein besseres Verständnis für queere Menschen gerade auf dem Land zu erlangen und in einem nächsten Schritt LGBTI* ganz selbstverständlich in den Unterricht einbringen. Des Weiteren wünschen sich die Schüler festangestellte Queer-Beauftragte an allen Schulen und LGBTI* verpflichtend im Lehrplan. Gerade auf dem Land bleibe Schule die beste Möglichkeit, Raum für queeres Leben zu schaffen, wenn anderweitig Angebote fehlen.

Diese fehlenden Angebote zu schaffen und queeren Menschen ganz praktisch Möglichkeiten an die Hand zu geben, wie sie das Thema LGBTI* mehr in den Fokus ihres unmittelbaren Umfeldes bringen können, ist eines der Belange von queeren Beratern und Vereinen, die sich im dritten Teil des Fachgesprächs austauschten. Der Bedarf sei vielerorts durchaus vorhanden, wie beispielsweise Chris Hess von Queer in Niederbayern bestätigte. Oftmals treffen LGBTI*-Aktivisten auch noch auf das Vorteil, dass es queeres Leben auf dem Land gar nicht gebe, wie Benedikt Linke von der Hessischen Landjugend erklärte. Er gründete innerhalb des Vereins die AG Queer. Es sei wichtig, so Linke, die Sensibilität von heterosexuellen Menschen gerade in den Vereinen in puncto LGBTI* zu erhöhen – zum einen, weil gerade dort eine andere Vertrauensstruktur herrscht, die schneller zu Erfolgen führen könnte; zum anderen aber auch, weil auf dem Land viele Queers noch immer Angst haben, ausgeschlossen zu werden oder zum Mittelpunkt von dörflichem Klatsch und Tratsch zu werden.  

Sven Lehmann zeigte sich von den Gesprächen durchwegs begeistert und betonte, dass er bis zum Sommer 2022 massiv am angedachten nationalen Aktionsplan gegen Homo- und Transfeindlichkeit arbeiten wolle. Eine gezielte und koordinierte Ausweitung der Aktivitäten auf Bundesebene sei ein entscheidender Schritt, um den Schutz und die Gleichberechtigung von LGBTI* substantiell voranzubringen – allerdings, so Lehmann mit einem Augenzwinkern, sei das nicht „sofort mit einem Fingerschnippen“ alles umsetzbar.

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