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 „Du kämpfst und kämpfst, bis dir klar wird, du musst weg, um zu überleben!“

Queer und muslimisch Zwiespalt zwischen Glauben und sexueller Orientierung?

ms - 28.04.2023 - 16:00 Uhr

Schwul, lesbisch, queer – und offen muslimisch? Oder anders gesagt, Islam und offen homosexuell, geht das überhaupt? Was macht es mit jungen Muslimen, wenn sie entdecken, dass sie irgendwie „anders“ sind? Wie bringen sie Glauben und sexuelle Orientierung zusammen? Mit diesen Fragen beschäftigte sich der Filmemacher Lennart Herberhold in seiner jüngsten Dokumentation „Queer und muslimisch“, die am Internationalen Tag gegen Homophobie (17. Mai) im NDR ausgestrahlt wird, vorab gibt es den Film bereits in der Mediathek.

Herberhold porträtiert dabei drei junge Menschen, die jeweils einen ganz unterschiedlichen Weg gefunden haben als queere Muslime. Da ist zum einen Ahmed, der als junger Muslim in Berlin aufgewachsen ist. Trotz Regenbogenhauptstadt und Großstadtoffenheit erlebte er nach seinem Coming-Out viel Anfeindung und Hass aus seiner eigenen Familie und geriet dadurch immer mehr in eine Lebenskrise, bis er seinen eigenen Weg zum Glauben gefunden hat. „Es ist emotional so ein Hindernis, diesen Sprung zu machen und das auszusprechen, und so viel zu verlieren“, so Ahmed. Der zweite Interview-Partner Abbas stammt aus dem Libanon, lebt heute in Hamburg und hat Asyl beantragt. Als Teenager war er an einer berühmten Religionsschule. Dann merkte er: Seine Sexualität und die strengen Regeln dieser Religion, das könnte im Libanon zum tödlichen Konflikt für ihn werden. Er hat sich im Gegensatz zu Ahmed vom Islam abgewendet. Auf die Frage, wie queeres Leben und Muslim zusammenpassen, antwortet er dann auch kurz und knapp: „Gar nicht!“ Um so mehr hat er derzeit Angst davor, seine neue Freiheit in Hamburg erneut zu verlieren und wieder in den homophoben Libanon abgeschoben zu werden. „Du kämpfst und kämpfst, bis dir klar wird, du musst weg, um zu überleben!“, so Abbas. Die dritte Person im Bunde ist Trans-Mann Marco, der vor kurzem erst eine Ausbildung zum Imam gemacht hat und im Vorstand des Liberal-Islamischen Bundes sitzt. Er blickt erneut ganz anders auf den Glauben, für ihn ist der Islam eine freie und vielfältige Religion, zu der er ganz bewusst konvertiert ist. Filmemacher Herberhold legt dabei großen Wert darauf, dass es den „einen Islam“ genauso wenig gibt wie „die Muslime“, es lohnt sich immerzu ein genauerer Blick auf die individuellen Lebensentwürfe von Menschen.  
 

Für Trans-Mann Marco ist der Islam eine freie und vielfältige Religion, zu der er ganz bewusst konvertiert ist. © NDR

Wie wichtig das Thema heute mehr denn je ist, zeigt auch die Statistik: Die Antidiskriminierungsstelle des Bundes belegte in mehreren Studien in den letzten Jahren, dass die Religion noch immer eine große Rolle dabei spielt, wenn es um das Thema Hass gegenüber Homosexuellen und queeren Menschen geht. Kurz gesagt, je stärker der eigene Glaube ausgeprägt ist, desto fundamentaler und hasserfüllter wird auch Homosexualität abgelehnt. Im extremen Maße zeigt sich das noch einmal bei Männern mit Migrationshintergrund, hier sind die Fallzahlen nach Angabe der Bundesstelle aufgrund der religiösen Prägung „signifikant negativer“. Konkret bedeutet das, dass Menschen mit Migrationshintergrund beinahe doppelt so oft homophoben Einstellungen zustimmen (34 Prozent) als Menschen ohne Migrationshintergrund. Zwar verbessert sich die allgemeine Einstellung gegenüber Homosexuellen nach und nach ein wenig, sodass inzwischen eine knappe Mehrheit der Muslime (53 Prozent der zugezogenen, 70 Prozent der in Deutschland geborenen Muslime) beispielsweise die gleichgeschlechtliche Ehe auch befürwortet (Religionsmonitor 2019, Bertelsmann Stiftung), andererseits bedeutet das noch immer, dass bei rund 5,5 Millionen Muslimen in Deutschland (BAMF 2020) etwa 2,2 Millionen von ihnen Homosexuelle und queere Menschen in unterschiedlich starker Ausprägung nach wie vor ablehnen.

Schwul, lesbisch, queer – und offen
muslimisch? Oder anders gesagt,
Islam und offen homosexuell, geht
das überhaupt?

Es steht zu befürchten, dass dabei wie in der Allgemeingesellschaft auch, es zudem noch einmal einen großen Unterschied macht, ob es ganz abstrakt um das Thema LGBTI* geht oder der eigene Sohn oder die eigene Tochter sich plötzlich outen. Das bestätigt auch Abbas, wenn er an seine Heimat, den Libanon, zurückdenkt: „Queer zu sein stand ganz oben auf der Liste der Verbote. Nicht nur, so zu sein, das ganze Thema war verboten.“ Doch nicht nur in islamisch geprägten Ländern, auch in Deutschland lebt ein Teil gerade auch junger Muslime noch mit dominant-heterosexuellen Männlichkeitsbildern, in denen alles jenseits der Norm als Problem verstanden wird. Im Patriarchat sieht auch der Diplom-Psychologe Ahmad Mansour die eigentliche Ursache für die Tabuisierung von sexueller Vielfalt. Bereits muslimische Kinder würden so lernen, dass zuerst Väter und dann Brüder das Sagen haben und das jede Abweichung als persönlicher Angriff und eigene Verunsicherung der kulturellen Identität interpretiert werde. Trotzdem kann ein queeres Leben und eine Hingabe zum Islam unter gewissen Umständen vielleicht doch funktionieren, wie die Dokumentation klarmachen will.

Fakt bleibt aber aktuell leider auch, dass in vielen muslimischen Communitys auch in Deutschland queeres oder homosexuelles Leben noch immer ein Tabu-Thema ist, wie auch der Münchner Imam Ahmad Schekeb Popal gegenüber dem Bayerischen Rundfunk erklärte: „Die Vorbehalte sind groß, die Ängste sind groß und die Unwissenheit ist am allergrößten. Und gerade deshalb kommt es zu diesen Konflikten.“ Schekeb Popal ist einer der wenigen Imame in Bayern, der überhaupt offen über das Thema spricht. Ganz anders erlebt Trans-Mann Marco den Islam, der ihm vor allem während seiner Brust-Operation inmitten der Covid-Pandemie viel Kraft gegeben hat. Er fand sich in der Kapelle des Krankenhauses allein wieder und spürte, wie ihm die Gebete Richtung Mekka gesprochen mit viel Energie und Mut von den Wänden entgegenhallten und ihn dabei stärkten: „Seitdem fühle ich mich nie mehr alleine, egal, was ich mache. Das empfinde ich als eines der zentralen Botschaften im Islam und im Koran. Egal, was passiert, es gibt einen barmherzigen Gott, der auf dich aufpasst.“ Abbas erlebt den Glauben genau anders herum – auf die Frage, was sein Vater mit ihm angestellt hätte, hätte er sich vor ihm geoutet, sagt Abbas deutlich, er wäre geschlagen, vielleicht auch zu Tode geprügelt worden. Und im Namen dieses Gottes hätte er es auch verdient, so zu enden. Die meisten Geschichten im Koran seien deswegen auch dazu da, den Menschen Angst zu machen.

„Es ist emotional so ein Hindernis, diesen Sprung zu machen und das auszusprechen, und so viel zu verlieren.“ © NDR

Genau hier liegt ein großes Problem im Koran selbst. Das Schriftstück lässt viel Raum für Interpretationen, selbst unter muslimischen Gelehrten gibt es dabei nicht eine übereinstimmende Sichtweise. Auch der Münchner Imam Schekeb Popal kennt das Problem: „Den Konflikten begegne ich jeden Tag. Über die sozialen Netzwerke, wenn ich angerufen werde, wenn Leute mich anschreiben und mir sagen, ich habe diese Sorgen und diese Leute sind fast am Rande des Suizids.“ So gibt es zwar im Koran keine explizite Stelle, die LGBTI* verbietet, doch sehr gerne wird die Geschichte über Sodom und Gomorrha herausgepickt, um frei interpretiert festzuhalten, dass Homosexualität verboten sei. Liberale Imame und Gläubige sehen darin eher eine Verurteilung von sexualisierter Gewalt allgemein, nicht von Homosexualität. Während die einen zaghaft zur Debatte einladen, ist für andere Muslime allein schon der Gedanke daran gotteslästerlich. Auch der Zentralrat der Muslime in Deutschland ist dabei nur bedingt hilfreich, wie auch der BR festhält. So spricht sich der Verband zwar einerseits immer wieder gegen die Diskriminierung von LGBTI*-Menschen aus, hält aber andererseits auch fest, dass Homosexualität noch immer ein „Vergehen“ sei. Diese Taktik kommt auch Christen mit Blick auf Papst Franziskus bekannt vor, der Schwule und Lesben einerseits in der Kirche willkommen heißen will und im gleichen Atemzug von der „Sünde“ der Homosexualität spricht. Für den Zentralrat der Muslime ist die Angelegenheit am Ende eine Sache zwischen Gott und dem Menschen selbst – ein schöner Gedanke, der andererseits dem Verband aber auch erlaubt, sich galant aus der Affäre zu ziehen. Queere Muslime bleiben dabei gerade auch mit ihrer eigenen Zerrissenheit und ihren Bedenken alleine, sie müssen für sich selbst klären, wo sie stehen, wie sie welche Texte interpretieren wollen und welchen Schwerpunkt der Glaube in ihrem Leben künftig einnehmen soll. Mit diesen Fragen befassten sich auch Prof. Dr. Mouhanad Khorchide und Dr. Ali Ghandour, beide Islamwissenschaftler an der Universität Münster. Während Khorchide für ein historisch-kritisches Textverständnis zugunsten eines liberalen Islam plädierte, sprach sich Ghandour gegen „Theologiefetischismus“ in der Debatte aus. „Den Streit mit Textstellen auszutragen, führt zu nichts.“  

„Queer zu sein stand ganz oben auf der
Liste der Verbote. Nicht nur, so zu sein,
das ganze Thema war verboten.“

Einer, der helfen will, ist Tugay Saraç, LGBTI*-Koordinator der Ibn Rushd-Goethe Moschee und eines der Gesichter der Kampagne „Liebe ist halal“, die für die Akzeptanz sexueller Vielfalt im Islam wirbt. Im Gespräch mit Vertretern des Bundesfamilienministeriums erklärte er: „Unsere Kampagne hat eine große Onlinedebatte ausgelöst. Auf Instagram, YouTube und TikTok gibt es positive wie auch viele negative Videos über uns. In den Kommentaren kann man teils hitzige Debatten beobachten. In meinen Augen ist das Führen dieser Debatte schon ein großer Schritt. Auch dass so viele queere muslimische Menschen endlich eine Anlaufstelle haben, ist überaus positiv.“ Gerade die Ibn Rushd-Goethe Moschee ist für LGBTI*-Muslime oftmals eine Anlaufstelle, denn sie vertritt einen progressiven Islam – genau deswegen erfährt sie aber auch jedes Jahr Anfeindungen von anderen, streng gläubigen Muslimen. Für Saraç war die Moschee in gewisser Weise die Rettung gewesen: „Ich habe viele Jahre versucht, meine Homosexualität mit einem radikalen Islam zu ´heilen´. Ich war enttäuscht, dass ich immer noch schwul war, trotz all der Gebete. Prediger sagten mir immer, Gott nehme jedes Bittgebet an. Nur meine wollte er scheinbar nicht annehmen. 2017 wurde die Ibn Rushd-Goethe Moschee gegründet. In ihr fand ich dann meine Heimat. Dort war ich damals der erste offen schwul lebende Muslim.“ Und zu seiner Motivation erklärt der junge Mann weiter: „Meine größte und wichtigste Motivation ist es, die Situation von Betroffenen zu verbessern. Es bricht mir das Herz, Geschichten von völlig unschuldigen, geschlagenen und getöteten queeren Menschen zu lesen.“ So bleibt am Ende die Erkenntnis übrig, dass es noch viel zu tun gibt im Spannungsfeld zwischen LGBTI* und Islam – ein erster Schritt ist dabei, die Menschen hinter dem Glauben zu sehen. Pauschale Einschätzungen bringen hier höchstwahrscheinlich wenig Besserung. (ms)

„Queer und muslimisch“
NDR, 17. Mai und in der Mediathek

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