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Wie tolerant sind wir wirklich?
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UMFRAGE Wie tolerant sind wir wirklich?

vvg - 07.09.2023 - 17:00 Uhr

Humphry  

aus Amsterdam

Nein, auf keinen Fall. Ich bin jetzt 60+, wenn ich in die Szene gehe – die sich eh schon sehr verkleinert hat – trifft man nur noch die jüngere Generation und bei denen ist man nicht gerne gesehen, mit Ausnahme derer, die auf Daddys stehen. Das geht schon so weit, dass man auf einigen Parties gar nicht mehr reinkommt, sondern von vorneherein mit „Ist voll“ ausselektiert wird, obwohl man die Jugendlichen rein lässt.

Auch die Bärenszene hat sich sehr verändert: Waren die Kerle vor Jahren noch behaart, kräftig und modisch nicht so unterlegt, steht man heute auf Mode, Modeschmuck, gestylte Haare und Parfüm und lästert über jene, die diesen Style nicht mitmachen. Aber Toleranz war noch nie ein großes Thema bei den Schwulen: Schon vor 25 Jahren musste ich mir in einer Kneipe den Satz „Was macht der Alte denn hier?“ anhören. Ich habe ihm gesagt, er solle froh sein, dass es uns gäbe, sonst hätte er heute nicht die Freiheit, die er nutzt. Ich war schon immer schlagfertig; als ich vor Jahren mal im Fummel ausging, wurde ich doof mit der Bemerkung: „Der hat doch einen Pimmel!“ angemacht, worauf ich erwiderte „Ja, habe ich! Aber auch zwei Fäuste, die du gerne kennen lernen kannst.“

Jeder sollte Mensch bleiben und das tolerieren, was andere wünschen und wollen. In der ganzen sogenannten LSBTIQA*-Szene akzeptiert jeder nur seine Gruppierung und seinen Buchstaben im ganzen Buchstabensalat.

In Holland gibt es in der Sauna MZ und im Club Church genderfluide Tage; wer dann Gast sein will, sollte das akzeptieren oder gleich zu Hause bleiben. Ich auf jeden Fall finde, dass das schon lange fällig war.

 

© vvg

Kevin       

aus Karlsruhe

Ich erlebe, dass wir innerhalb unserer schwulen Welt intoleranter werden. Je toleranter die Gesellschaft uns gegenüber wird und uns toleriert, desto intoleranter werden die Schwulen selbst untereinander in unserer Community. Leider bemerke ich das auch an mir. Ich war mit 20 viel toleranter als heute. Ich mag zum Beispiel keine tuckigen, femininen Typen. Ich akzeptiere zwar ihre Lebensweise und mache sie nicht nieder, aber es ist nicht meine Welt und ich möchte sie weder in meinem Freundeskreis noch in meinem Bett haben.

Geredet wird immer. Natürlich lästern wir auch alle sehr gerne, aber man sollte dabei Mensch bleiben und nicht andere verletzen.
Mir schrieb mal jemand „Ich stehe nicht auf Haare. Wenn du dich komplett rasierst, kannst du gerne kommen!“ Warum schreibt er mir überhaupt, wenn ich nicht in sein Beuteraster passe? Der wollte mich wahrscheinlich doch nur provozieren.
Eine Person, die mich wohl für einen Ausländer hielt, schrieb mir: „Du Dreckskanacke, du gehörst erschossen. Wenn ich dich auf der Straße sehen würde, würde ich dir die Kehle durchschneiden.“ Diese Aussage kam von einem schwulen deutschen Mann und hat mit Toleranz und Intoleranz nichts mehr zu tun, sondern gehört angezeigt und bestraft.

Ein weiteres Beispiel passierte mir in einer schwulen Sauna: Ein sehr femininer Mann sprach mich an und wir unterhielten uns ganz normal. Als er mir mehr als deutlich zeigte, dass er mehr von mir wollte und ich ihm klarmachte, dass wir uns gerne weiter unterhalten könnten, aber mehr nicht drin sei, wurde er sauer, sehr ausfallend und beschimpfte mich laut vor allen Gästen. Da kann sich verletzte Eitelkeit schnell in Intoleranz und Beleidigung umwandeln.

 

© vvg

Markus       

aus Köln  

Wir gehen alle nicht gerade gut mit dem Thema Toleranz um. Wenn ich mich selbst anschaue, muss ich gestehen: ja, auch ich kann intolerant sein. Es kommt vor, dass ich mich dazu verleiten lasse, andere nach ihrem Äußeren zu beurteilen. Wenn zum Beispiel jemand schräg angezogen ist, sehr trashig oder zu laut ist, empfinde ich das schon als eine negative Eigenschaft, beginne also intolerant zu sein. Ich reflektiere das aber im Nachhinein und bekomme es meistens hin, dieses danach auch anders betrachten zu können. Aber in der ersten Reaktion urteilt man oft und schnell verkehrt. Dann geht man zunächst auf Ablehnung oder Distanz und wenn man diese Person vielleicht später näher kennenlernt, stellt man fest, dass man da einem Menschen Unrecht getan und ihn in eine falsche Schublade gesteckt hat.
Ich war bis vor Kurzem im Vorstand des Landesverbandes der queeren Suchtselbsthilfegruppe SHALK und bin heute noch für beide Kölner Gruppen verantwortlich, da wird auf Toleranz sehr großen Wert gelegt. Wir nehmen jeden auf und dürfen niemanden ausschließen. Das ist ein Gebiet, wo man lernt, negative Wertschätzung und Vorurteile zu vermeiden.
Leider wird unsere Gesellschaft grundsätzlich immer intoleranter. Die Frustrationen werden ständig größer, was auch immer das für Ursachen hat. Möglichkeiten dafür sind vielleicht eigene Unzufriedenheit, fehlende oder unentspannte Freizeit, sowie persönliche Einschränkungen in vielen Bereichen. Da fällt es vielen Menschen vielleicht leichter, auch mal nach unten zu treten und über seine Mitmenschen zu urteilen.
Gesunde, gutaussehende Menschen – also die von der Gesellschaft geprägten Norm entsprechend Aussehenden - haben es da einfacher.
Da kann man den intoleranten Menschen nur raten, ihre Verhaltensweisen zu reflektieren, empathischer zu sein und anderen Menschen feinfühliger und sensibler zu begegnen.

 

© vvg

Sascha     

aus Berlin

Ich bin schwul, aber Teil der queeren Community, vereint unter dem Regenbogen. Warum ich das betone? Weil ich befürchte, dass je mehr Buchstaben (LGBTQIA*) und damit auch verschiedene Flaggen es gibt, die queere Sichtbarkeit nachlassen wird. Unzählige verschiedene Flaggen, die ich teils nicht kenne, mindern die Kraft der Regenbogen-Flagge. Statt gemeinsam gegen Diskriminierung zu kämpfen, fordert jede kleinste Minderheit das Recht auf Sichtbarkeit – und eine eigene Flagge. Jede und jeder einzelne ist wichtig, aber die unzähligen Flaggen verwässern die queere Gemeinschaft und fördern Ausgrenzung. In Berlin gibt es mittlerweile fünf CSDs, wie schrecklich. Ich muss mich entscheiden, zu welcher Gruppe ich gehöre, statt für alle Diskriminierten in einem CSD zu demonstrieren. Und während in dem Buchstabensalat immer mehr eingeschlossen werden, (Welche queere Instanz bestimmt eigentlich die Buchstaben?) werden im Alltag immer mehr ausgeschlossen. Bei Romeo heißt es mittlerweile keine Dicken, Alten, Asiaten, Trans usw. Die ach so toleranten Schwulen grenzen aus - je nach ihren Vorlieben. Statt gemeinsam zu kämpfen, werden Gruppen innerhalb der queeren Community diskriminiert. Seien es Transpersonen, aber auch Cis-Männer, die in FLINTA-Kreisen nicht mehr gewollt sind. Eine fatale Entwicklung, wenn ich als schwuler Mann nicht aufs Klo gehen darf, da die für FLINTAS reserviert sind. In Zeitungen werden aus schwulen Autoren queere Literaten und aus Virginia Wolf eine queere Autorin. Wie lange wurde dafür gekämpft, um selbstbewusst zu sagen, ich bin schwul oder lesbisch. Nun sollen Schwule und Lesben unter dem queeren Label verschwinden, während andere auf ihre Sichtbarkeit bestehen. Mein Vorschlag: Jede sexuelle Orientierung, jede Geschlechtsidentität und sexuelle Oriertierung kann eine Flagge haben, aber gemeinsam treten wir nur unter der Regenbogen-Flagge auf. Je sichtbarer jede einzelne Gruppierung werden will, umso unsichtbarer werden am Ende alle sein.

© vvg

Steffen      

aus Köln

Ich hoffe doch, dass wir Schwulen tolerant sind, aber leider sind es nicht alle. In der Szene sind wir doch sehr oberflächlich und meist nur auf das Äußere bedacht.

Wir spiegeln uns immer vor, dass die inneren Werte uns doch soooo viel wichtiger sind, aber das entspricht leider nicht den Tatsachen. Ich habe es meist immer so erlebt, dass der äußere Schein wichtiger ist, als der Mensch, der dahintersteckt. Es war früher anders, besser, persönlicher, vor allem der Umgang miteinander war ehrlicher.

Aber seit Sozialmedia unsere Freizeit bestimmt, hat sich da Einiges sehr zum negativen hin entwickelt. Das fängt ja schon damit an, dass man im Profil einen Fragebogen zu allen Körpermerkmalen und Vorlieben ausfüllt und der Gegenüber nur noch seine Vorlieben als Suchoptionen eingibt. Da fällt man durch das Raster, wenn man zu alt oder zu dick ist, wenn man Haare an den falschen Stellen hat oder nicht die entsprechende Größe vorweisen kann. Das bekommt man in den seltensten Fällen mit, aber man weiß, dass es so ist.

Von mir denke ich, dass ich vielem gegenüber tolerant bin, sicher wird es auch bei Beispiele geben, wo ich mit meiner Toleranz an Grenzen stoße, aber ich versuche, dabei keinen Menschen persönlich zu verletzen. Da fällt mir ein, dass ich mit dem Buchstaben Salat, der unsere queere Community bezeichnet, schon meine Probleme habe, vor allem, wenn ich ihn aussprechen müsste und wenn die Individualität so weit geht, dass am besten jeder eine eigene Spezies sein möchte. Dabei würde es reichen, sich als QUEER zu bezeichnen, um die Einheit unserer Community zu verdeutlichen. Dass dem nicht so ist, finde ich nicht gut.

 

© vvg

Stephan    

aus Hannover

Mir fällt auf, dass unsere Community zerfällt und kein großer Zusammenhalt mehr existiert wie noch vor 20 Jahren. Jede Minderheit will eine eigene Fahne. Toleranz kann ich da nicht groß finden. Um Toleranz können wir nur in der Gesellschaft werben, sie aber nicht fordern! Ich finde, wir waren gut unter der Regenbogenfahne vereint und jeder sollte darin eine Farbe finden, mit der sich identifizieren lässt.

In letzter Zeit machen wir eher Rückschritte was die Toleranz in der Gesellschaft angeht und viele Personen fühlen sich eher genervt von zu vielen Forderungen. Es kann nicht sein, dass wir Toleranz fordern aber selbst nicht viel Toleranz an den Tag legen. Im persönlichen Umfeld merke ich, dass es den Meisten egal ist, wen man liebt, wenn es allerdings darum geht, dass jemand z. B. einen Baum oder ein Klavier liebt, ist das schon anders. Wir sollten uns auf das Wesentliche besinnen und nicht nur laut, provokant und fordernd durch die Straßen ziehen, sondern uns wieder vereinen und gegen die wirklichen Feinde der Community geschlossen auftreten. Ich finde es gut, wenn ein Stadion in Regenbogen-Farben angestrahlt wird oder der Fußballkapitän die Regenbogenbinde trägt, aber wir dürfen es nicht erzwingen. Auch „unangemessenes“ Verhalten beim CSD finde ich unangebracht, wie beim CSD Berlin 2023. Wenn wir der Öffentlichkeit unsere Belange näher bringen wollen, müssen wir uns entsprechend präsentieren. Vulgäres Verhalten hat für mich dort nichts verloren. Auch das Thema „Gendern“ lehnt die Mehrheit ab. Doch eine Minderheit hat sich so darin verbissen, dass es jetzt jedem aufgezwungen werden soll. Ich sehe viele Themen, die unserer Gemeinschaft nicht guttun, weil sie die Toleranz in der Bevölkerung nicht erhöhen, dazu zähle ich auch die Buchstaben LGBTQIA*!

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