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Dr. Stefan Esser // © Privat

Dr. Stefan Esser Wie und warum HIV das Risiko für andere Erkrankungen erhöht

ms - 07.05.2022 - 10:00 Uhr

HIV – die Diagnose, die noch vor gut zwei Jahrzehnten für Angst sorgte, hat inzwischen in Deutschland und der westlichen Welt weitestgehend seinen Schrecken verloren. Rund 90.000 HIV-positive Menschen leben aktuell in der Bundesrepublik. Aus der einstmaligen tödlichen „Schwulenseuche“ ist eine scheinbar einfache chronische Erkrankung geworden, die sich mit der täglichen Einnahme einer Tablette gut handhaben lässt. Oder?

Der Blick auf HIV gerade auch innerhalb der queeren Community ist ein recht argloser und hält dabei der Realität nicht wirklich stand. Dr. Stefan Esser vom Universitätsklinikum Essen geht seit 2004 als Leiter der HIV HEART Aging Studie der Frage nach, wie Menschen mit HIV altern. Die kontinuierlich laufende Studie rekrutiert dabei auch stets neue Teilnehmer, um neuste Entwicklungen in der HIV-Medizin mit einzubinden. Aktuell nehmen rund 1.800 Menschen daran teil, darunter auch Patienten, die seit 30 Jahren mit HIV leben. Der älteste Teilnehmer ist 84 Jahre alt. Dabei zeigt sich Überraschendes: HIV-positive Menschen altern nicht nur anders, sie haben auch ein erhöhtes Risiko für Krebs –und Herzerkrankungen. Wie werden also HIV-Positive künftig im Alter leben, wenn bald ein Großteil der HIV-Patienten in Deutschland über 50 Jahre alt sein wird? 

Die Behandlung mit antiretroviralen Medikamenten lässt HIV-Patienten älter und alt werden, sodass sie ähnlich wie die Gesamtbevölkerung inzwischen zumeist durch Herzerkrankungen oder an Krebs versterben. Dabei gibt es trotzdem sehr deutliche und wichtige Unterschiede. Welche? 
Bei HIV-positiven Menschen treten diese Erkrankungen häufiger und früher auf. Zudem haben HIV-positive Menschen häufiger mehrere Komorbiditäten, das heißt, dass zusammen mit ihrer Grunderkrankung gleichzeitig noch eine oder mehrere weitere Krankheiten vorliegen. HIV-Patienten leiden vor allem häufiger an Krebserkrankungen, die durch Co-Infektionen hervorgerufen werden. Bekannt sind hier zum Beispiel die unbehandelte chronische Hepatitis C oder auch HPV, also humane Papillomviren, durch die sich Tumore im Mund-, Genital- und Analbereich bilden können. Wir wissen inzwischen, dass das bei HIV-positiven Menschen besonders häufig vorkommt und auch einen besonders ungünstigen und raschen Verlauf nimmt. Das Risiko, durch HPV Krebs zu bekommen, ist für HIV-Patienten bedeutend höher als in der Allgemeinbevölkerung. Das kann man aber nicht allgemein über alle Erkrankungen sagen, an denen HIV-Positive leiden. Deswegen ist es so wichtig, HIV-positive Menschen beim Altern zu begleiten, um zu erforschen, wie genau diese Personen altern und dann ihre medizinische Versorgung zu optimieren. Wir sind jetzt in der glücklichen Situation, dass wir die erste Generation von HIV-positiven Menschen haben, die nicht mehr an AIDS sterben, sondern altern und eine normale Lebenserwartung erreichen können.

Herzerkrankungen treten bei HIV-positiven Menschen also bereits in jüngeren Jahren auf. Ab welchem Alter würden Sie eine erhöhte Gefahr attestieren? Und welche Risikofaktoren konnten Sie durch Ihre Studie feststellen?
Im Schnitt zehn Jahre früher als in der Gesamtbevölkerung. Ich würde Gesundheitschecks ab dem 40ten Lebensjahr empfehlen. Ein Hauptrisikofaktor ist das Rauchen. Als wir mit unserer Studie begonnen haben, gab es noch doppelt so viele Raucher unter HIV-positiven Menschen als in der Allgemeinbevölkerung. Hier hat sich in den letzten Jahren zwar einiges getan, aber noch immer ist die Zahl der Raucher mit HIV um ein Drittel höher als in der Allgemeinbevölkerung. Auch wenn man sich den Gebrauch von Drogen wie beispielsweise Kokain oder Crystal Meth ansieht, die mit einem erheblichen Erkrankungsrisiko für das Herz verbunden sind, stellt man fest, dass dieser unter HIV-Positiven deutlich höher ist. Zudem gibt es auch trotz optimaler antiretroviraler Therapie bei einigen HIV-positiven Menschen chronische Entzündungsprozesse. Das Immunsystem macht eher zu viel, sodass spezifische Schäden beispielsweise an Gefäßen entstehen können. Wir wissen zum Beispiel heute, dass die Verkalkungen in den Blutgefäßen bei HIV-Positiven anders aussehen und schneller reißen als bei HIV-Negativen, was zu Herzinfarkten und Schlaganfällen führen kann. Grundsätzlich kann man sagen: Je länger ich eine unerkannte oder unbehandelte HIV-Infektion habe oder je schlechter die Helferzellen sind, umso höher wird mein Risiko. Am stärksten trifft das auf jene Menschen zu, die bereits einmal AIDS hatten. Einsamkeit, psychiatrische Erkrankungen, psychosoziale Ausgrenzung und Stigmatisierung sind zudem Risikofaktoren, die für schwerwiegende Erkrankungen fast genauso relevant sind wie das Rauchen. Wenn man Menschen zurücklässt, setzt man sie hochgradigen anderen Erkrankungen abseits der ursprünglichen HIV-Diagnose aus.

Studien zeigen, dass Ansteckungen mit einer Geschlechtskrankheit (STI) auch abseits von HIV unter schwulen Männern deutlich stärker ausgeprägt sind als in der Gesamtbevölkerung. Kann auch eine STI bei HIV-Positiven das Risiko einer Herzerkrankung noch verstärken?
Auf jeden Fall ja. Vor allem die Syphilis. Da die Krankheit aber durch die regelmäßigen Kontrollen zumeist frühzeitig erkannt und behandelt wird, ist sie nicht herzschädigend. Eine verschleppte Syphilis kann dagegen schwerwiegende Folgen haben. Es ist daher auch bei HIV-Positiven wichtig, dass sie regelmäßig auf Geschlechtskrankheiten untersucht werden, damit diese nicht verschleppt werden. Gerade durch die TasP und die PrEP haben viele schwule Männer ja häufig ohne Kondome Sex und können sich leicht eine STI einfangen.

Wie erklären Sie sich diesen leichtfertigen Umgang mit der eigenen Gesundheit unter HIV-Positiven?
Da antworte ich mit einer Gegenfrage: Wie lange wissen wir denn schon, dass ein HIV-positiver Mensch eine gute Lebenserwartung hat? Wenn man als HIV-Positiver wie früher üblich glaubte, man lebt vielleicht noch zehn Jahre, dann hatte man zu seiner Gesundheit und auch zum Beispiel zum Rauchen ein anderes Verhältnis. Heute sehen HIV-Positive, dass sie problemlos auch 80 Jahre und älter werden können und sie können selbst entscheiden, mit welcher Lebensqualität sie altern wollen. Wir haben es in der HIV-Medizin oft mit sexuell aktiven Menschen zu tun. Sexualität ist grundsätzlich sehr gesund, aber in einer gewissen Szene herrscht zudem der Wunsch, Sexualität in Verbindung mit Drogen zu erleben, um sich locker zu machen, Hemmungen abzubauen oder den Sex noch intensiver zu empfinden, was mit gesundheitlichen Risiken verbunden ist. Allerdings hat hier inzwischen bei Jung und Alt auch ein gewisses Umdenken stattgefunden. Durch die enge vertrauensvolle Arzt-Patienten-Bindung in der HIV-Medizin kann man immer wieder dazu ermutigen, gesünder zu leben. Wir haben zum Beispiel zusammen mit Patienten ihren persönlichen kardiovaskulären Risiko-Score berechnet. Wenn dann ein Patient sieht, was sich da im positiven Sinne dramatisch verbessert, wenn er zum Beispiel das Rauchen aufhört, ändert sich oft die Einstellung zum eigenen Verhalten. Es bringt in jedem Alter etwas, wenn man seinen Lebensstil für seine Gesundheit verbessert!

In der Öffentlichkeit und auch in der queeren Community herrscht zumeist die Meinung vor, dass ein Leben mit HIV ganz normal ist. Man schluckt einmal am Tag eine Tablette und fertig. Ein fataler Trugschluss?
Dieses leichtfertige Gerede, HIV ist ja heute gar nicht mehr gefährlich, teile ich nicht. Das ist eine Trivialisierung und nimmt die Bedürfnisse von HIV-positiven Menschen nicht ernst. Ich möchte keine Angst verbreiten, aber ich wünsche mir, dass sich wieder mehr Achtsamkeit im Umgang mit HIV entwickelt. Auch ein Status wie „nicht nachweisbar“ bedeutet ja nicht, HIV ist weg. HIV verbleibt im Körper und macht auch dann noch etwas, wenn es nicht nachweisbar ist. Zudem sind HIV-positive Menschen ein Leben lang auf die Medikamente angewiesen, auch wenn diese immer besser werden. Es sind trotzdem keine Smarties. Wir sehen immer wieder, dass es Langzeit-Nebenwirkungen der antiretroviralen Medikamente gibt. HIV-Medizin ist mehr als nur der Blick auf die Viruslast. Wir bemerken auch, dass eine lebenslange HIV-Infektion seelisch eine Belastung darstellt. Wir sehen prekäre Lebensverhältnisse in der HIV-Community und Langzeitüberlebende, denen der gesamte Freundeskreis weggestorben ist und die heute sehr einsam sind. Man sollte HIV also auch heute nicht auf die leichte Schulter nehmen.
 

Translationale HIV Forschung // © Privat

Was für einen Umgang mit HIV würden Sie bevorzugen?
Ich wünsche mir einen möglichst angstfreien Umgang mit der HIV-Infektion. Dennoch sollte man wissen: Bei allen Dingen, die man vielleicht sonst im Leben ohnehin bekommt, kommt HIV immer noch oben drauf. Für viele Erkrankungen stellt HIV einen zusätzlichen Risikofaktor dar. Wenn man das weiß, kann man vielleicht prophylaktisch agieren und kann Risikofaktoren durch andere Dinge ausgleichen, beispielsweise durch Sport. Es lohnt sich wirklich, als HIV-positiver Mensch ein gewisses Gesundheitsbewusstsein zu entwickeln. Bewegung ist der Schlüssel zur Gesundheit. Jeder Schritt am Tag zählt. Und in puncto Ernährung würde ich auf frische Nahrungsmittel setzen, nicht alles nur aus der Mikrowelle. Wir haben in Deutschland die Möglichkeit, uns auch für bezahlbares Geld gut zu ernähren.

Es gibt nach Ihrer Studie auch Substanzen bei der antiretroviralen Therapie (ART), die ein gesteigertes Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen beinhalten. Im Speziellen der Arzneistoff Abacavir. 
Hier muss man sagen, das gilt eher für Personen, die schon viele Risikofaktoren haben. Wenn diese Menschen Abacavir nehmen, haben sie in der Tat ein erhöhtes Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse, zum Beispiel Herzinfarkte. Aber es gibt ausreichend Alternativen. Deswegen sollte ein HIV-behandelnder Mediziner nicht nur auf die Viruslast schauen, sondern muss auch im Blick haben, welche Risikofaktoren und Lebensumstände der jeweilige Patient hat. Zudem sollten Wechselwirkungen bei den Patienten beachtet werden, die mehrere Erkrankungen gleichzeitig haben, und deren Medikamente aufeinander abstimmen.

Warum ist aus Ihrer Sicht die Forschung im Bereich HIV und Alter so wichtig? 
HIV-positive Menschen haben das Recht, dass man sie als Ganzes betrachtet und alle Erkrankungen, die für sie bedeutend sind, mit ins Auge fasst. Wir haben gute antivirale Therapien, aber HIV-Medizin geht weit darüber hinaus. Das Altern mit HIV muss man weiter untersuchen und im Blick haben, sonst gucken wir immerzu nur auf die Viruslast unter der Nachweisgrenze und unseren Patienten geht es trotzdem immer schlechter. Forschung im Bereich HIV und Alter ist eine riesige Chance. Wir haben die erste Generation von HIV-positiven Menschen, die - zum Glück - altert. Die Bereitschaft, an solchen Studien teilzunehmen, ist hoch. Unsere HIV-Positiven sind mit Eifer dabei, weil sie wissen, für sie, aber vor allem auch für die kommenden Generationen können die Erkenntnisse elementare Verbesserungen bringen. Ich habe die große Sorge, dass für solche Studien die Gelder irgendwann schwinden, weil die Meinung vorherrscht, im Bereich HIV-Medizin ist ja alles gar kein Problem mehr. Wenn wir nicht weiter forschen, dann wissen wir gar nicht, ob es keine weiteren Probleme gibt.

Zusammenfassend, was sind für Sie die wichtigsten Aspekte mit Blick auf HIV-Patienten und dem Alterungsprozess?
Eines der wichtigsten Schritte, um das Risiko von anderen Erkrankungen für HIV-Positive zu minimieren, ist, so früh wie möglich die HIV-Infektion zu diagnostizieren. Wichtig ist auch, eine medizinische Betreuung zu haben, die Risikofaktoren erkennt und diese auch behandelt. Das Allerwichtigste ist die regelmäßige Einnahme der antiretroviralen Therapie. Wir konnten in unserer Studie ganz klar zeigen, dass diejenigen, die immer wieder Therapiepausen machen, auch ein massiv erhöhtes Risiko haben, schwerwiegend zu erkranken.

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